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Das Alter – ein vielfältiger Prozess

Ist das Alter eine Zeit der Reife und des heiteren Wohlbehagens oder eher eine anstrengende Herausforderung? Die Entwicklungspsychologin Prof. Dr. Pasqualina Perrig-Quiello gibt Überblick und Wegleitung.

Frau Perrig, vor Zeiten stellte ein populäres Gedicht fest: «60 Jahr fängts altern an. Mit 70 Jahr ein Greis.» Abgesehen von medizinischen Faktoren: Welche Anzeichen machen deutlich, dass ein Mensch in seinem Wesen alt geworden ist?
Prof. Dr. Pasqualina Perrig-Quiello*: Gesellschaftlich gesehen hat heute das kalendarische Alter an Bedeutung verloren. Für mich, die ich mich mit Lebensspannen-Psychologie befasst habe, ist das Alter eine relative Grösse. Es handelt sich um einen Prozess, wir alle altern während unseres ganzen Lebens. Der eigentliche Marker ist achtzig, insofern, als dann die meisten Menschen zu spüren bekommen, dass ihr Körper nicht mehr alles mitmacht.

Wenn Alter eine relative Grösse ist, können zwei Menschen zwar den gleichen Jahrgang haben, aber die Formel «wir in unserem Alter» ist dennoch nicht richtig?
Genau, die Forschung zeigt, dass mit zunehmendem Alter die Unterschiede zwischen Gleichaltrigen immer grösser werden, und zwar auf verschiedenen Ebenen, etwa in Bezug auf die Lebensgestaltung oder die Gedächtnisleistung usw. Überdies sind die Biografien viel flexibler geworden. So kann beispielsweise ein Mann mit sechzig eine neue Partnerschaft eingehen, nochmals Vater werden und gleichzeitig Vater und Grossvater sein. Die Destandardisierung von Lebensläufen zeigt ebenfalls deutlich, dass das kalendarische Alter weitgehend ausgehebelt wird.

Ist das Bild vom Alter als einer Zeit der Reife und der Lebensernte Realität oder eher ein tradiertes Wunschbild?
Ganz nüchtern und wissenschaftlich betrachtet muss man sagen, dass das Alter – wie alle anderen Lebensphasen – sowohl Gewinn als auch Verlust bringt. Je älter man wird, desto spürbarer wird der Verlust an Kraft oder man verliert liebe Freunde, den Partner. Zum Glück gelingt es älteren Menschen immer besser, mit Verlusten umzugehen. Mehrheitlich sind sie in der Lage, aus den Lektionen des Lebens zu lernen.
Die Wohlbefindensregulation und die emotionale Kontrolle nehmen im Vergleich zu früheren Jahren zu. Aber auch hier können die Unterschiede erheblich sein. Man pflegt dem Alter Gelassenheit und Weisheit zuzuordnen, aber längst nicht jeder alte Mensch ist weise und gelassen. Was eindeutig ein Vorteil ist: Im Alter kann man auf eine stabile Lebenserfahrung zurückgreifen – sofern man sie sich auch wirklich zunutze macht. Zu den Vorteilen des Alters gehört ebenso eine Befreiung von Zeit- und Leistungsdruck. Nicht selten werden im Alter aber neue Leistungszwänge aufgebaut.

Vielleicht brauchen manche Menschen auch im Alter einen gewissen Leistungsdruck?
Fest steht, dass wir bis zu unserem Lebensende Aufgaben brauchen. Das Gefühl, in irgendeiner Weise in dieser Gesellschaft eine Funktion zu haben, ist sehr wichtig. Wenn mir jemand klagt, sie oder er leide unter dem Gefühl der Nutzlosigkeit, sage ich: «Dann suchen Sie doch eine Arbeit, tun Sie was.» Selbst im kleinsten und engsten Umfeld, ja sogar im Altersheim, kann man sich einsetzen. Aber es ist schon klar: Nicht alle verfügen über die gleichen Ressourcen und die gleiche Kreativität.

Der bekannte Spruch «Alt werden ist nichts für Feiglinge» klingt flott. Viele Menschen haben jedoch Angst vor Altersarmut, vor dem Verlust der Selbstständigkeit und ganz besonders vor Demenz. Kann man sich mit einem emotionalen Krafttraining gegen derartige Ängste einigermassen immunisieren?
In bestimmten Bereichen ist das Alter heute einfacher zu bewältigen als früher. Eine verwitwete Person ist nun finanziell solider abgesichert und hat mehr Möglichkeit zu sozialen Kontakten. Vieles hat sich verbessert: Die Forschung zeigt jedoch immer wieder, dass die Ängste die gleichen geblieben sind wie ehedem. Der Umgang mit diesen Ängsten und die Prävention, die Sie ansprechen, ist wiederum ganz unterschiedlich. Der eine spricht von Schicksal, «so ist halt das Leben», ein anderer ist entschlossen, sich nicht stressen zu lassen und den Ängsten etwas entgegenzusetzen.

An welche Anti-Angst-Massnahmen denken Sie?
Ein ganz wichtiger Faktor ist der Zugang zu Bildung und Wissen, wo immer er sich den älteren Menschen bietet. Mein Leitspruch heisst: «Lieber spät als gar nicht.» Ein weiterer Faktor ist die Fähigkeit, den Augenblick wahrzunehmen, ihn gut zu leben und gleichzeitig proaktiv nach vorn zu blicken. Proaktiv meint nicht, dass alles bis ins Detail geplant werden müsste. Hingegen sollte man sich mit Zuversicht um Vorsorge kümmern. Was alles kann ich regeln? Welche Entscheidungen will ich treffen? – Man denke etwa an einen Vorsorgeauftrag. Was geregelt werden kann, sollte man ganz rational regeln. Man kann sich auch informieren und sich von einer zuständigen Institution beraten lassen. Leider sind ganz besonders viele ältere Frauen schlecht informiert und wissen nicht, was ihnen zusteht und wo sie Hilfe bekommen können. Daneben gibt es den emotionalen Bereich: Soziale Netze müsse gepflegt werden. Wenn nicht im Alter – wann dann?

Wie kann man mit Verlusterlebnissen wie etwa dem Wegzug der Kinder, dem Abschied vom beruflichen Umfeld, mit dem Erlahmen der Partnerschaft oder auch mit dem Verlust der körperlichen Attraktivität am besten zurechtkommen?
Was Sie erwähnen, betrifft biografische Lebensübergänge, die immer wieder eine Neudefinition der eigenen Identität verlangen. Man ist beispielsweise nicht mehr das aktive Mami oder eine Berufsfrau in ihrer Aktivität als Chefin: Jetzt muss man sich gleichsam neu erfinden, man muss neue Aufgaben, neue Inhalte und neue Ziele suchen. Solch eine Neudefinierung kann übrigens auch mit einer modischen Frisur oder einem veränderten Kleiderstil beginnen – die Art der Kreativität darf sehr individuell sein. Entscheidend ist die Neudefinition der Identität, des eigenen Ich.

So ist es denn ratsam, das Alter nicht einfach so geschehen zu lassen, sondern Strategien zu entwickeln?
Ja. Und dazu gehört, dass man sich neue Prioritäten setzt. Vielleicht hatte man eine grosse Reise geplant und stellt nun fest: «Eigentlich ist mir diese Reise zu anstrengend und gar nicht mehr so wichtig – anderes ist mir sehr viel relevanter geworden.» Für ebenso bedeutungsvoll halte ich die Anpassung des Anspruchsniveaus und der Ziele. Die Erkenntnis «ich muss nicht alles müssen» ist entlastend. Dasselbe gilt vor allem auch für die Relativierung externer Normen: Was andere denken oder sagen oder was für andere als Standard gilt, kann mir egal sein. Ich weiss selbst am besten, was zu mir passt und mir guttut. In diesem Zusammenhang von Altersstarrsinn zu sprechen, wäre fehl am Platz: Hier geht es um etwas Positives, nämlich um Eigensinn. Alten Menschen kann man nur raten: Bleibt eigensinnig! Vor allem Frauen der älteren Generation haben immer noch die Tendenz, sich anzupassen und schicksalsergeben unterzuordnen.

Sollte man vielleicht versuchen, das eigene Alter wie eine Art Projekt zu gestalten?
Man kann es Projekt oder auch Reise nennen. Dazu gehört Neugier, ständige Lernbereitschaft und vor allem auch Dankbarkeit. Dankbarkeit für das, was man erreichen konnte im Leben oder vielleicht dafür, dass die Kinder ihren Weg gefunden haben. Sehr wichtig ist ebenfalls, dass man die Eigenverantwortung bis zum Lebensende wahrnimmt und gleichzeitig bereit ist, die Fügungen des Schicksals anzunehmen. Vor Jahren habe ich im Rahmen einer Studie ein Gespräch mit einem nahezu hundert Jahre alten, sehr agilen Mann geführt. Als ich ihn fragte, was er mache, um derart fit zu sein, gab er zur Antwort: «Man muss auf sich achten. Wissen Sie, Frau Perrig, der liebe Gott schickt uns Wind und Wetter. Aber rudern müssen wir selbst.»

* Die Entwicklungspsychologin Prof. Dr. Pasqualina Perrig-Quiello ist emeritierte Honorarprofessorin an der Universität Bern.