Deutsch

Wunderkind: Das hochbegabte Kind

Die Bezeichnung «Wunderkind» ist untrennbar mit dem Namen Wolfgang Amadeus Mozart verknüpft. Ab wann ist aber überhaupt von Hochbegabung zu sprechen? Die Fachdozentin Salomé Müller-Oppliger kennt sich in diesem Themenumfeld aus.

Frau Müller-Oppliger, der jüngste Schweizer Student ist 17 Jahre alt, heisst Maximilian Janisch und verfügt über ganz aussergewöhnliche mathematische Fähigkeiten. Ist «Wunderkind» für ihn und andere junge Hochbegabte der passende Begriff?
Salomé Müller-Oppliger*: Meine nicht forschungsorientierte, sondern ganz persönliche Gegenfrage: Ist nicht jedes Kind in seiner Art und in seinem Dasein ein Wunder? Der Begriff «Wunderkind» macht mir im Zusammenhang mit Maximilian Janisch insofern etwas Mühe, als hier verschiedene Aspekte mitspielen. Der junge Mann ist überdurchschnittlich intelligent. Sein ausdauerndes, vom Vater unterstütztes Training hat es ihm schon in seinen frühen Kinderjahren ermöglicht, herausfordernde mathematische Aufgaben zu lösen. Er verfügt zudem über ein sehr hohes Mass an Selbstdisziplin und Leistungsbereitschaft.

Offenbar ist Hochbegabung nicht nur vom exzellenten Ergebnis eines Intelligenztests abhängig?
Ein hoher IQ ist sicher erfreulich, aber nicht allein ausschlaggebend. Die Forschung ist sich weitgehend einig, dass Persönlichkeitsfaktoren wie eben Anstrengungsbereitschaft oder Selbstregulation genauso wichtig sind, damit ein Kind das in ihm angelegte Potenzial verwirklichen kann. Der Forscher Prof. Dr. Joseph Renzulli von der Universität Connecticut – mit der wir zusammenarbeiten – hat schon 1986 den Begriff «Goldenes Chromosom» geprägt: Begabung ist nie auf einen Fixpunkt zentriert, sondern es spielen mehrere Faktoren mit. Renzulli hat das Drei-Ring-Konzept entworfen. Wenn überdurchschnittliche Begabung mit kreativem, divergierendem Denken und eine von Leistungsbereitschaft, ja Leidenschaft geprägte Arbeitshaltung zusammentreffen und im besten Fall von einem förderlichen Umfeld unterstützt wird, ermöglicht dies eine starke Leistungsfähigkeit.

Wie kommt es, dass sogenannte «Überflieger»-Kinder eine Schulklasse überspringen, nach einiger Zeit jedoch wieder zum guten Mittelmass gehören?
Meines Erachtens ist es entscheidend, dass Kinder oder Jugendliche ausreichend motiviert werden und die Lernanforderungen als sinnvoll erleben. Einschneidende Lebensereignisse wie etwa ein Unfall oder die Scheidung der Eltern, aber auch ein heftiger, entwicklungsbedingter Hormonschub können unter Umständen die Leistungsfähigkeit beeinträchtigen.

Wird Hochbegabung in der Schweiz frühzeitig erkannt?
Pädagogische Diagnostik ist eine der zentralsten Kompetenzen des Lehrerberufs. Die Lehrpersonen sollten in der Erkennung von Hochbegabung oder Begabungen geschult werden. Es steht ihnen überdies eine Reihe von anerkannten Beobachtungsinstrumenten zur Verfügung. Unter Umständen kann es jedoch schwierig sein, das Leistungspotenzial eines Kindes zu erkennen.

Was erschwert eine frühe und richtungweisende Einschätzung?
Manchmal tritt eine Begabung verdeckt auf: Das Kind verfügt über ein hohes Potenzial, hat aber gleichzeitig eine Lernbeeinträchtigung. Oder ein Kind wird zum «Minderleister» oder gar zum Störenfried in seiner Klasse, weil es nicht genügend herausgefordert worden ist. Wenn Verhaltensauffälligkeit das Begabungspotenzial überlagert, ist es nicht leicht, die richtige und dem Kind angemessene Einschätzung zu treffen. Die Förderung von begabten und hochbegabten Kindern ist jedoch ein Bildungsauftrag und explizit im Lehrplan 21 verankert. An etlichen Schulen sind speziell ausgebildete Lehrpersonen entsprechend tätig.

Bekommen Eltern von hochbegabten Kindern Beratung und Beistand?
Das ist von Kanton zu Kanton und manchmal sogar unter Gemeinden unterschiedlich. Einige Beratungsstellen werden bereits angeboten, so in den Kantonen Aargau, Baselland und Zürich. Grundsätzlich sollte in allen Schulen eine in Begabungsförderung ausgebildete Lehrperson den Eltern und Kindern zur Seite stehen können.

Sie sprechen von «Begabungsförderung». Heisst dies, dass nicht allein die Hochbegabten, sondern möglichst alle Kinder in ihrer jeweiligen Veranlagung gefördert werden sollen?
Wir unterscheiden zwischen Begabungsförderung und Begabtenförderung. Die Begabungsförderung hat zum Ziel, dass bei allen Schülerinnen und Schülern deren Stärken und Schwächen erkannt und ihre Begabungen unter Berücksichtigung ihrer individuellen Möglichkeiten optimal gefördert werden. Die Begabtenförderung nimmt sich unter anderem der teilweise besonderen Bedürfnisse der überdurchschnittlich Begabten an. Sie unterstützt diese Kinder auch bei der Entwicklung von Kompetenzen, die ihnen in ihrem Begabungsbereich Hochleistungen ermöglichen.

Kann ein Kind – ganz abgesehen von einer allenfalls übersteigerten Erwartungshaltung seiner Eltern – auch unter seiner Hochbegabung leiden?
Ja, wenn das Lernklima seiner Klasse von Konkurrenzkämpfen statt von einer Anerkennungskultur geprägt ist. Scheut sich ein Kind, seine Leistungen zu zeigen, weil es nicht als «Streber» verhöhnt werden will und erlaubt es sich nicht mehr, stolz zu sein, kann Hochbegabung zur Last werden und Leidensdruck verursachen. Aber auch eine andauernde Unterforderung kann das Wohlbefinden eines Kindes beeinträchtigen, seine Persönlichkeits- und Leistungsentwicklung stören, ja sogar seine ganze Familie belasten.

Sollte Begabungsförderung jedem Kind zuteilwerden?
Gewiss, denn jedes Kind hat Stärken. Es gehört zur Kunst der pädagogischen Diagnostik, dass die Lehrperson die Stärken des Kindes wahrnimmt, sie anerkennt und in ihrer Entwicklung fördert. Das Kind soll überdies ermutigt werden, Leistung zur Geltung zu bringen. Das schweizerische Verhaltensmodell neigt eher dazu, sich zurückhaltend zu geben, um nur ja nicht als «Bluffer» unangenehm aufzufallen.

* Salomé Müller-Oppliger ist Dozentin und Leiterin des internationalen Masterstudiums «Integrative Begabungs- und Begabtenförderung» der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz. Sie ist Mitglied im Board des trinationalen Weiterbildungsprojekts eVOCATIOn, Schweizer Delegierte im European Council for High Ability (ECHA) und im World Council for Gifted and Talented Children.