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Wenn das Gemüt Grau trägt

Die nebelverhangenen, lichtarmen Novembertage setzen manchen Menschen psychisch zu. Dr. med. Thorsten Mikoteit vom Behandlungszentrum für Psychosomatik und Psychiatrische Dienste Solothurn macht deutlich, was unter Winterblues und Depressionen zu verstehen ist.

Herr Dr. Mikoteit, ist der sogenannte Winterblues eine depressive Störung oder geht es eher um Stimmungsschwankungen, die mit vernünftiger Selbstregulation leicht zu beheben wären?
Dr. med. Thorsten Mikoteit:
Diese saisonale Winterdepression gibt es tatsächlich. Sie wirkt sich aber bei vielen Menschen nur leichtgradig aus, etwa mit erhöhtem Schlafbedürfnis, gesteigertem Appetit auf Süssigkeiten, einer allgemeinen Lustlosigkeit oder einem Mangel an Energie und Motivation.

Was löst diese depressiven Verstimmungen aus?
Sie haben etwas zu tun mit der chronobiologischen Rhythmik unserer Hirnfunktionen. Unser Biorhythmus wird getaktet durch die Hell-Dunkel-Phasen: Das Tageslicht aktiviert uns, in den Dunkelphasen schlafen wir und regenerieren uns. Die kürzeren Helligkeitsphasen an Wintertagen wirken uns gleichsam entgegen: Wir müssen aufstehen und zur Arbeit gehen, obwohl es noch dunkel ist und müssen so lange arbeiten, bis es erneut dunkel ist. Die sozialen Rhythmen zwingen uns also, gegen unsere innere Uhr anzukämpfen. Auf dieses Auseinanderklaffen von innerer biologischer Uhr und sozialen Zeitgebern reagieren entsprechend empfindliche Menschen mit einer Winterdepression.

Kann die Lichttherapie hilfreich sein?
Gewiss, mehrere Studien belegen, dass die Lichttherapie bei Depressionen, die an den Winter gebunden sind, eine gute Wirkung erzielt. Man kann die Therapie ganz leicht in die Tagesroutine einbauen und die Lampe beim Frühstück leuchten lassen oder sie am Arbeitsplatz aufstellen. Übrigens ist auch ein Morgenspaziergang bei Tageslicht zu empfehlen. Lichttherapielampen mit der nötigen Leuchtkraft 10 000 Lux sind u. a. in Apotheken zu beziehen. Falls für die Diagnose «saisonale Depression» ein Arztrezept vorliegt, übernimmt die Krankenversicherung die Kosten. Zeigt es sich, dass die Lichttherapie nach spätestens vier Wochen regelmässiger Anwendung kein positives Ergebnis gebracht hat, muss man selbstverständlich nach weiteren Heilungsmöglichkeiten suchen.

Der ehedem gebräuchliche Begriff «Gemütskrankheit» ist in Vergessenheit geraten. Aber könnte man eine Depression – die in unterschiedlichen Formen auftreten kann – doch als Krankheit des Gemüts bezeichnen?
Heute spricht man von einer Erkrankung der Affektivität, was dem Begriff «Gemüt» sehr nahe kommt. Gemeint ist damit eine Störung des Gefühlslebens und der damit verbundenen Wahrnehmungen, Gedanken und Verhaltensweisen. In der internationalen Klassifikation der Krankheit ist genau festgelegt, ab wann man von einer depressiven Episode sprechen darf und wann die entsprechenden Voraussetzungen fehlen. Eine Depression ist ein Krankheitszustand, der mindestens zwei Wochen anhält und gekennzeichnet ist durch übermässige Traurigkeit oder übermässige Freudlosigkeit und/oder eine sehr ausgeprägte Antriebsstörung: Zwei von diesen drei Hauptkriterien müssen erfüllt sein. Der Weg, aus dem sich eine Depression entwickelt, hat einen unterschiedlichen Verlauf. Wir sprachen vom Winterblues: Aus diesem kann sich eine Depression entwickeln, die hartnäckig anhält und Formen annimmt, die den erwähnten Kriterien entspricht.

Tritt eine Depression manchmal auch als Folge eines schweren Lebensereignisses auf?
Ja, eine Trennungssituation, ein Todesfall oder der Verlust der Arbeitsstelle und ähnliche schwere Lebensereignisse können eine Depression auslösen. Auch ein chronischer Konflikt oder eine Dauerbelastung, die in ein Burn-out mündet, sind manchmal Auslöser für eine Depression. Neben den drei Hauptkriterien treten manchmal auch Begleiterscheinungen wie vermindertes Selbstvertrauen, Konzentrationsstörungen, Schuldgefühle und Gedanken an den Tod oder Suizidideen auf.

Können sich hinter gewissen Verhaltensweisen eine Depression oder zumindest eine ernste depressive Verstimmung verstecken?
Tatsächlich kann sich eine Depression verstecken, etwa hinter chronischen unspezifischen Schmerzstörungen, etwa im Rücken- oder Kopfbereich, oder anderen körperlichen Symptomen. Menschen, denen es Mühe macht, Gefühle zu benennen, bringen ihre depressive Verstimmtheit zuweilen auf diese Art zum Ausdruck. Das Hilfesuchverhalten von Menschen ist eben ganz unterschiedlich. So liegt es Männern in der Regel weniger, sich in Gesprächen zu äussern oder ärztliche Hilfe zu suchen; sie betreiben nicht selten eine Art Selbstmedikation und betäuben sich mit Alkohol, während Frauen eher zu Beruhigungsmitteln greifen. Im Übrigen werden manchmal auffällig verminderte Stresstoleranz, Gereiztheit oder eine anhaltend missmutige Stimmung nicht als Anzeichen für eine männliche Depression erkannt – weil man sich unter einem Depressiven eher einen ganz in sich gekehrten Menschen vorstellt und nicht einen, der aggressiv austeilt.

Junge Menschen teilen oft ihrer Umgebung flapsig mit, sie seinen total «depro». Welche Anzeichen deuten darauf hin, dass es nicht nur um eine vorübergehende Verstimmtheit, sondern um eine Depression geht?
Den Begriff «Depression» sollte man wirklich nicht inflationär, sondern nur dann benutzen, wenn es um einen Krankheitszustand geht, bei dem sich der betroffene Mensch nicht mehr selber helfen kann. Auch bei einem jungen Menschen ist zu beachten, ob der Zustand der Niedergeschlagenheit zwei Wochen lang andauert und sich nicht nur als kurze Reaktion auf eine schwierige Lebenssituation oder ein trauriges Ereignis erklären lässt: Bei einer Depression verselbstständigt sich solch ein Zustand und ist auch nicht mehr durch ein positives Erlebnis auslenkbar. Das Befinden verändert sich auch dann nicht, wenn Angehörige versuchen, dem jungen Menschen Mut zuzusprechen – «Du wirst sehen, morgen sieht die Welt schon wieder anders aus.» Übrigens erleben sowohl junge als auch ältere Menschen Tage, an denen sie hoch motiviert sind und dann auch wieder welche, an denen alles beschwerlich zu sein scheint. Solche Stimmungsschwankungen sind für sich genommen noch kein krankhafter Zustand.

Stress, das Arbeitstempo und der Wirbel der sozialen Medien nehmen zu. Führt dies zu einer Zunahme an depressiven Erkrankungen?
Macht eine Gruppe von Menschen die gleichen Erfahrungen, wirken sich diese nicht bei allen gleich aus und nicht alle reagieren mit einer Depression. Möglicherweise ist heute der Erwartungsdruck höher: Man erwartet beispielsweise, in kürzerer Zeit Erfolg zu haben und Wohlstand zu erreichen und setzt sich deshalb selbst unter Druck. Die Digitalisierung kann – neben vielen Vorteilen – zu einer grösseren Vereinzelung führen. Das soziale Netzwerk mit Facebook und Co verdichtet sich zwar, aber die guten und tragfähigen Bindungen werden im Vergleich zu früheren Zeiten seltener. Im Sinne von Prävention könnte sich die Frage «Was brauche ich, um glücklich und zufrieden zu sein?» als nützlich erweisen. Zufriedenheit hat etwas zu tun mit Akzeptanz, angemessenen persönlichen Zielen und Erwartungen, tragenden sozialen Bindungen und einem gesunden Lebensstil.

*Dr. med. Thorsten Mikoteit ist Leitender Arzt und stellvertretender Chefarzt am Behandlungszentrum für Psychosomatik und Psychiatrische Dienste Solothurn.