Deutsch

Wildkräuter: Freunde und Begleiter

Wild wachsende Kräuter werden im Allgemeinen in Kochrezepten oder als pflanzliche Heilmittel verortet. Die Bündner Kräuterfrau Gisula Tscharner begegnet ihnen in dankbarer Ehrfurcht und in einem weitgespannten Erfahrungsumfeld.

Frau Tscharner, im Gartenbau und in der Landwirtschaft wird zwischen Kulturpflanzen und dem Unkraut unterschieden, das ausgerottet werden muss. Was halten Sie als leidenschaftliche Wildkräutersammlerin von dieser Unterteilung?
Gisula Tscharner*:
Wann immer von Ausrottung die Rede ist, lauert im Hintergrund die Angst! Während einiger Zeit sprachen Wildkräuter-Pioniere von Beikräutern, um den sogenannten Unkräutern mehr Respekt zu erweisen. Beikraut klingt aber ebenfalls sehr herablassend. Im Althochdeutschen hatte der Wortauftakt «Un-» nichts mit Herabminderung zu tun, im Gegenteil. Eine «Unmenge Menschen» meint eine fast unüberblickbar grosse Menschenmenge – und was unglaublich schön ist, empfinden wir als überwältigend ansehnlich.

Der Begriff Unkraut stört Sie also gar nicht?
Nein, weil es um eine Unmenge von Kräutern geht, die uns begleiten, die einfach da sind und uns nichts Böses wollen. Sie waren lange vor uns Menschenwesen auf der Welt und werden uns wohl auch problemlos überleben. 
Übrigens mag ich das Wort «Kraut» nicht, das so unangenehm im Hals kratzt, wenn man es ausspricht. Fragt mich jemand, ob ich «Wildchrüütli» sammle, entgegne ich: «Ich sammle Wildpflanzen.» Selbst eine Wettertanne mit ihren weit ausladenden, bergenden Ästen ist eine Wildpflanze, ja eine grosse, alte Urmutter.

Sie haben Theologie studiert, waren im Pfarramt und sind seit einigen Jahren freischaffende Ritualbegleiterin. Wie haben Sie zu den Wildpflanzen gefunden?
Es war eher so, dass die Wildpflanzen mich gefunden haben. Allmählich wurde mir bewusst, dass die sonntagnachmittäglichen Pflichtspaziergänge mit meinem Vater – einem nicht immer streng kirchenkonform denkenden Pfarrer – mitgewirkt hatten. Auf diesen Spaziergängen gab er ganz einfach das Wissen seiner Mutter an uns Kinder weiter und sagte etwa: «So, jetzt gehen wir Wildspinat sammeln, den kann uns Mama am Abend kochen», oder er sammelte mit uns im Wald wachsende Brombeeren. Prägend war auch meine Mutter, eine bodenständige, erdige Frau, die zu sagen pflegte: «Wenn ihr vom Garten ins Haus kommt, müsst ihr nicht die Hände waschen. Das ist kein Dreck, das ist Erde.» Ein Drittes: Ein Studienkollege, den ich sehr gern mochte, meinte: «Du bist nur eine Feld-, Wald- und Wiesentheologin.» Diese abwertende Bemerkung hat mich damals sehr verletzt. Später jedoch wurde mir bewusst, dass sie präzis den für mich richtigen Weg vorgezeichnet hatte.

In einem TV-Interview sagten Sie einmal, man müsse den «Charakter» einer Wildpflanze erspüren. Wie ist das zu verstehen?
Im Grunde ist es betrüblich, dass wir aufgefordert werden müssen, unseren Hochmut abzubauen und Natur wieder zu spüren. Andauernd wollen wir die «Umwelt retten» – wenn ich das schon höre! Das klingt so, als sei die Erde eine Art Sättigungsbeilage, wir Menschen dagegen stellen das wertvolle Beefsteak auf dem Teller dar. Deshalb versuche ich, Menschen wieder zum Staunen zu bringen.
Ich predige längst nicht mehr von einer Kanzel herab, sondern vermittle mein Anliegen auf der ganz praktischen Ebene – und gerne auch mit Humor.

Haben Sie sich von alten Schriften und Büchern von heilkundigen Frauen inspirieren lassen?
Unsere Vorfahren aus längst vergangener Zeit wussten um das Leben und die Geheimnisse der Pflanzen. Wir müssen uns von der Wissenschaft der Biochemie erklären lassen, wie Pflanzen miteinander kommunizieren und mit welch raffinierten Abwehrmechanismen sie sich zu schützen verstehen. Was mich anbelangt, bin ich zuallererst bei den Pflanzen in die Schule gegangen, ich habe sie gespürt und Erfahrungen gesammelt. Die Lektüre kam im Nachhinein, meist während der Wintermonate. So bin ich etwa auf die heilkundige Äbtissin Hildegard von Bingen aufmerksam geworden. Sie sprach immer wieder von der «Grünkraft» der Erde, in der sich Gott manifestiere. Vom Ethnobiologen Wolf-Dieter Storl stammt der Satz: «Eine Pflanze ist mehr als nur ein Behälter von chemischen Substanzen.» Kein Lebewesen darf nur von seinem Nutzwert her definiert werden.

Wer kochen möchte, schaut in der Regel zuerst nach, was Kühlschrank und Vorratskasten zu bieten haben. Ist für Sie das Wildpflanzenangebot die Entscheidungsgrundlage?
Wenn im Frühling im Tal der Wildlauch reif ist, gibt es bei uns Wildlauchsuppe oder Wildlauch-Kartöffelchen. Ich kann immer auch auf Kräutervorräte zurückgreifen, die ich nach alten Methoden konserviert habe und die intensiver im Geschmack sind als tiefgekühlte Produkte. In Salz und Öl eingelegte Blättchen vom Wilden Majoran riechen köstlich und können etwa mit Stampfkartoffeln vermengt und im Ofen leicht überbacken werden. Vogelbeeren – echte Vitaminbomben!  – kann man mit Birnel, also Birnendicksaft, einkochen und lange haltbar machen: Wunderbar geeignet für Desserts oder Gebäck. Nach alter Mütter Sitte koche ich den Saft von Wildbeeren mit Zucker in der Hälfte der Saftmenge ein – so kann ich jederzeit einen Punsch kreieren oder eine Creme mixen. Meine Gäste schätzen zudem meinen Drink mit Lärchenschnaps und Föhrendicksaft sehr.

Das klingt verlockend, ist aber mit Sicherheit mit viel Arbeitsaufwand verbunden. Sie streifen als «Sammelweib» durch Wald und Bergwiesen. Wo findet aber eine Frau, die in irgendeinem städtischen Vorort zu Hause ist, den Zugang zu Wildpflanzen?
Ich kenne den Einwand: «Ja, Sie in Ihrem Berggebiet – in Zürich findet man keine Wildpflanzen!» Falsch gedacht: In Berggebieten ist die Wildpflanzenvielfalt aus klimatischen Gründen kleiner als im Unterland. An jedem Waldrand, den die grossen Landmaschinen nicht erreichen können, bei Aufforstungen oder sogar auf Erddeponien mitten in der Stadt kann man einem reichhaltigen Biotop begegnen. Sie finden da Löwenzahn, Brennnesseln, wilden Lauch, Gundermann – wild wachsende Pflanzen voller Frühlingskraft! Als im Frühjahr 2020 die erste Corona-Welle ausbrach, bot ich allen Leuten im Dorf «Die grüne Neune» an, die begeistert genossen wurde, etwa gehackt und mit Quark vermischt. Kartoffelsalat vermischt mit Gundermann, Löwenzahn und etwas Bärlauch – eine Delikatesse.

«Grüne Neune» meint wohl eine Zusammenstellung von neun verschiedenen Kräutern?
Ja, es geht hier aber auch um die Magie der Zahl «Drei» und deren Vervielfachung in der Zahl «Neun». Selbstverständlich haben auch drei Frühlingskräuter schon eine gute Wirkung, auf jeden Fall sind sie geschmacklich weitaus prägnanter als jene winzigen Bärlauch-Partikel, die im Frühling vielen Produkten beigemengt werden, etwa den Teigwaren.

Ihre Tätigkeit als Ritualbegleiterin ist ein Thema für sich. Können Sie an einem Beispiel kurz zeigen, dass Wildpflanzen zuweilen auch in diesem Bereich eine Aufgabe übernehmen?
Längst schon empfinde ich Spiritualität und Pflanzen als Einheit. Ich erinnere mich an eine Abschiedsfeier, bei der die Asche, die Ursubstanz eines Menschen, der Erde übergeben werden sollte, und zwar im Engadin, weil der Familie diese Gegend in Ferienaufenthalten lieb geworden war. Sie hatte also auch die Pracht der Lärchenwälder erlebt. Und so goss ich denn bei dieser Feier etwas duftenden Lärchenschnaps auf die Asche. Zusätzlich tranken alle einen Schluck Lärchenschnaps, der Rest wurde dem Wurzelwerk des Baumes überlassen. Das waren kleine Gesten, die aber mit ihrer Symbolkraft Erde und Himmel einander nahebrachten.

* Gisula Tscharner, ehemals Pfarrerin, hat nicht zuletzt mit ihren zahlreichen Büchern über Wildkräuter eine breite Öffentlichkeit erreicht.

Das Buch zum Thema
Gisula Tscharner: Wald und Wiese auf dem Teller (AT Verlag).
Rezepte und Hinweise zum Sammeln und Kennenlernen der Wildpflanzen.