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Das Vitamin Wertschätzung

Der Begriff «Wertschätzung» wird oft allzu beiläufig verwendet. Die Hamburger Diplom-Psychologin Dr. Eva Wlodarek befasst sich eingehend mit dessen vielschichtiger und vitaler Bedeutung.

Frau Dr. Wlodarek, hat «Wertschätzung» eine andere, vielleicht sogar weitreichendere Bedeutung als «Anerkennung»?
Dr. Eva Wlodarek*: Ja, da gibt es einen feinen Unterschied, obwohl beide Begriffe meist umgangssprachlich in einen Topf geworfen werden. Wertschätzung bedeutet, wie auch schon das Wort verrät, dass man einen Menschen für wertvoll hält. Dabei kann es sich um eine grundsätzliche, allgemeine Einstellung handeln oder um ein positives Urteil, das sich jemand im Laufe der Zeit in unseren Augen verdient hat, zum Beispiel durch zuverlässige Leistung. Anerkennung dagegen ist kurzlebig, etwa in Form eines Lobes oder eines Komplimentes, wenn jemand beispielsweise etwas gut gemacht oder sich richtig verhalten hat.

Braucht schon ein kleines Kind altersgemässe Formen der Wertschätzung?
Unbedingt! Wertschätzung ist eine wichtige Basis für Selbstvertrauen. Dazu gehört, dass man ein Kind nicht demütigt, lächerlich macht oder ihm seine Gefühle abspricht. Ebenso wichtig ist, dass man seine Eigenarten anerkennt und seine Fähigkeiten fördert. Ein Kind lernt ausserdem am Verhalten seiner Eltern, was Wertschätzung bedeutet. Fehlt es einem Menschen in jungen Jahren an Wertschätzung, fällt es ihm im Erwachsenenalter schwer, sich selbst und andere wertzuschätzen.

«Man muss Menschen mögen», heisst ein mittlerweile geflügeltes Wort eines ehemaligen Schweizer Bundesrates. Muss man einen Menschen mögen, um ihn in seinem Wert würdigen zu können?
Alle Menschen zu mögen, die einem begegnen, scheint mir doch etwas viel verlangt. Wir sind keine Heiligen, wir kennen Sympathie und Antipathie. Aber auch wenn wir jemanden aus guten Gründen ablehnen, hat er verdient, dass wir ihm höflich begegnen. Das ist einer wertschätzenden Grundhaltung geschuldet, die prinzipiell allen Mitmenschen gegenüber gelten sollte, unabhängig von ihrem Auftreten und Erscheinungsbild. Das ist eine Frage der Selbstachtung. Bei denjenigen, die man liebt und mag, fällt es dagegen leicht, ihren Wert zu erkennen. Dazu müssen wir uns nicht zwingen, es kommt von selbst.

Weshalb ist Wertschätzung ein Fremdwort für all jene, die in den sozialen Medien andere Menschen bösartig beschimpfen, beleidigen oder gar bedrohen?
Meist verhalten sich diejenigen so, die in ihrem eigenen Leben keine Wertschätzung erfahren haben. Der Hass im Netz ist oft Ausdruck eines Minderwertigkeitsgefühls. Auf verquere Art versucht man, sich Bedeutung zu geben, indem man andere abwertet. So fühlt man sich grösser und stärker. Ausserdem fehlt in diesem Umfeld auch die Fähigkeit zur Empathie: Wer sich mit Mitgefühl in andere hineinversetzen kann, ist kaum fähig, sie leiden zu lassen. Im Schutze der Anonymität kommen hingegen auch die Schattenseiten eines Menschen zum Vorschein, so etwa Bosheit, Neid oder Zerstörungslust.

Wie kann ich einen Menschen selbst dann wertschätzen, wenn er eine gegenteilige, mir nicht genehme Meinung vertritt oder mich in seiner Andersartigkeit befremdet?
Das ist gar nicht so einfach. Unser Gehirn ist seit Millionen Jahren so angelegt, dass in solch einem Fall zunächst automatisch eine Ablehnungsreaktion einsetzt. Wir gehören einer bestimmten sozialen Gruppe an. Wer nicht die gleichen äusseren Anzeichen aufweist oder die Meinung unserer Gruppe vertritt, wird erst einmal skeptisch betrachtet. Die Gegenmittel sind bewusste Zuwendung und positive Neugier. Sie verhindern, dass wir Vorurteile beibehalten und in Klischees denken. Statt den anderen abzuwerten, Kontra zu geben oder sich abzuwenden, ist es also sinnvoller, zuerst einmal zu verstehen, was unser Gegenüber eigentlich bewegt. Auch das ist eine Form der Wertschätzung. Sie ist selbst dann möglich, wenn wir die Ansicht unseres Gegenübers nicht teilen.

Können Sie Leitlinien vermitteln, die den Zugang zu echter Wertschätzung erleichtern?
Wir sind es gewohnt, unsere Aufmerksamkeit auf Negatives zu richten, auf die Schwächen, Verfehlungen und Unzulänglichkeiten unserer Mitmenschen. Bei dieser Ausgangslage ist es kaum verwunderlich, wenn keine Wertschätzung entsteht. Anders sieht es aus, wenn wir unseren Fokus auf das Positive richten, das jeder Mensch mit Sicherheit auch zu bieten hat. Vielleicht ist der Kollege ein Besserwisser, andererseits aber gründlich und gut informiert. Oder eine Freundin ist zwar nicht besonders zuverlässig, aber inspirierend und kreativ. Man kann durchaus auch einzelne Eigenschaften wertschätzen.

Setzt das Verständnis für den Sinn von Wertschätzung voraus, dass ich auch mich selbst schätze – trotz all meiner Fehler und Irrtümer?
Es gibt ein Sprichwort: «Nur aus einem vollen Krug kann man ausgiessen.» Wenn ich mich selbst nicht wertschätze, gelingt es mir wahrscheinlich kaum, anderen Wertschätzung zu geben – zumindest nicht im angemessenen Mass. Möglicherweise bewundere ich sie dann zu sehr und stelle sie auf ein Podest oder ich werte sie neiderfüllt ab. Deshalb ist der erste und wichtigste Schritt, sich selbst wertzuschätzen, trotz aller Schwächen, die nun mal jede und jeder hat. Diese Haltung ist auch eine Voraussetzung, um von anderen Menschen Wertschätzung zu empfangen. Was wir von uns selbst denken, strahlen wir nämlich nach aussen ab – und darauf reagiert unsere Umgebung.

Wo verläuft die Grenze zwischen positiver Selbsteinschätzung und Selbstüberschätzung?
Es ist völlig in Ordnung, wenn wir die eigene Leistung oder unser Verhalten positiv einschätzen. Niemand muss bescheiden sein Licht unter den Scheffel stellen. Aber wenn ich mich grundsätzlich anderen überlegen fühle, dann geht dies zu weit und ich habe die Grenze überschritten. Ein Anzeichen für diese Grenzüberschreitung ist Arroganz. Selbstüberschätzung zeigt sich auch oft an einer Kluft zwischen Selbstbild und Fremdbild. Das heisst, ich spreche mir selbst positive Eigenschaften zu, die meine Umgebung durchaus nicht erkennen kann. Wer der Gefahr einer Selbstüberschätzung entgehen möchte, sollte kompetente und vertrauenswürdige Menschen um Feedback bitten: «Wie siehst du das, habe ich diese Eigenschaft?»

Wie unterscheidet sich Wertschätzung vom manipulativen Versuch, in irgendeiner Richtung eine Wertsteigerung zu erlangen?
Echte Wertschätzung will verdient sein. Sie erfordert kontinuierlich gute Leistung oder ein charakterlich beständig einwandfreies Verhalten. Möglicherweise kann man über kurze Zeit durch ein entsprechendes Image andere täuschen und damit unverdient Wertschätzung erreichen. Doch spätestens in Krisenzeiten zeigt sich die Wahrheit. Unter Stress lässt sich ein falsches Bild nicht aufrechterhalten. Und dann verliert man sehr schnell seinen guten Ruf.

Gibt es nicht auch Situationen im Leben, in denen wir ohne Hoffnung auf Anerkennung oder Wertschätzung unseren Weg gehen müssen?
Das ist das Schicksal der meisten Pionierinnen und Pioniere, wie die Biografie vieler berühmter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Reformerinnen und Reformer belegt. Aber auch wir Normalsterblichen bekommen nicht immer Beifall, wenn wir unseren eigenen Weg gehen. Deshalb ist es wichtig, nicht allzu stark von der Anerkennung anderer abhängig zu sein. In kritischen Phasen ist es notwendig, dass man sich während einer bestimmten Zeit das, was man sich von anderen wünscht, selbst zuteilwerden lässt.

* Dr. Eva Wlodarek hat Germanistik, Psychologie und Philosophie studiert und ist praktizierende Psychotherapeutin, Coach und Buchautorin (siehe auch Eva Wlodareks Life-Coaching-Kurzreferate auf YouTube).