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Lebenselement Tastsinn

Wie intensiv unser Fühlen, Denken und Handeln, ja unser gesamtes Menschsein mit dem Tastsinn in Verbindung stehen, weiss Prof. Dr. Martin Grunwald vom Institut für Hirnforschung an der Universität Leipzig. Mit leidenschaftlicher Beharrlichkeit widmet er sich der Haptik-Forschung, der Lehre vom Tastsinn.

Martin Grunwald, Sie sprechen nicht von Tastsinn, sondern von einem «Tastsinnessystem». Welche hauptsächlichen Elemente gehören dazu?
Prof. Dr. Martin Grunwald*:
Schwierig, eine kurze Erklärung abzugeben. Das «Tastsinnessystem» ist zunächst auf die Erkundung der äusseren Welt gerichtet, etwa von Wärme oder Kälte und all dem, was wir durch direkten Körperkontakt wahrnehmen können. Die weitaus grössere Arbeitsrichtung des Systems ist mit den inneren Zuständen unseres Körpers befasst. So werden unter anderem die Funktionsfähigkeit und das richtige Zusammenspiel unserer Gliedmassen kontrolliert und dem Gehirn wird gemeldet, ob alles in guter Ordnung ist.

Meldet diese nach innen orientierte Abteilung des «Tastsinnessystems» auch, wenn etwas nicht in Ordnung ist?
Nein, das wird nicht durchwegs zuverlässig signalisiert. Nehmen wir als Beispiel eine Patientin, die an Magersucht erkrankt ist. Bei ihr werden die Tastsinnparameter nicht richtig verarbeitet: Sie empfindet sich als zu dick und zu fett, obwohl dies überhaupt nicht zutrifft. Die Patientin leidet unter einem gestörten Wahrnehmungsvermögen und realisiert nicht, dass sie krank ist. Dass wir gewisse Störungen in diesem «Tastsinnessystem» oft nicht bewusst wahrnehmen, kann lebensbedrohliche Folgen haben.

Weshalb spüren wir es, wenn sich ein winziges, vom Auge kaum sichtbares Insekt auf einer ebenfalls winzigen Hautpartie unseres Armes niedergelassen hat?
Diese Wahrnehmung kann auf einer besonders sensiblen Hautpartie stattfinden. Zu diesen überaus sensiblen Arealen gehören Mund, Nase, Ohren und der Genitalbereich. Oder das Insekt setzt sich auf Hautbereiche, die mit Haaren besetzt sind. Minimale Verbiegungen eines einzelnen Haares registrieren die Tastsensoren und wir können das Insekt
wahrnehmen. Die Berührung eines einzelnen Körperhaares löst somit unsere Wahrnehmung aus – sofern wir nicht abgelenkt sind.

Ist von Gesundheit die Rede, taucht meist der Begriff «Immunsystem» auf. Sie sprechen von einer «körpereigenen Apotheke». Was hat diese Apotheke im Angebot?
Sie hat sehr viel im Angebot. Wenn Sie berührt werden, profitiert Ihr gesamtes Immunsystem von dieser Stimulation. Studien haben belegt, dass auch andere biochemische Wirkungen nur durch Berührungsreize ausgelöst werden können. Die Herzfrequenz wird langsamer, die Atmung wird flacher und der Spannungszustand der Muskulatur wird verringert. Dank einer Berührung kommt also eine ganze Reihe von physiologischen Veränderungen in Gang. Ich weiss gar nicht, was man an Medikamenten einnehmen müsste, um auf pharmakologischem Weg die gleichen Effekte zu erzielen. Überdies wird die emotionale Ebene angesprochen: Der Mensch fühlt sich wohl, heiter und positiv gestimmt. Mit «Apotheke» möchte ich die Vielfältigkeit dessen umschreiben, was Berührungsreize in unserem Körper und unserer Seele auslösen.

Wie erklären Sie sich die aktuell allgegenwärtige Angst, selbst eine kurze freundschaftliche Berührung könnte falsch verstanden werden?
Es scheint sich hier um ein europäisches Phänomen zu handeln. Im Grunde haben alle Menschen das Bedürfnis, ihren Mitmenschen angstfrei gegenüberzustehen – aber heute haben alle Angst, etwas falsch zu machen. Auch im Umgang mit meinen Studierenden stelle ich fest, dass wir uns in der Zange der Political Correctness befinden.
Schlechtes Gewissen beim Gebrauch einer Plastiktüte, schlechtes Gewissen wegen der Flugreise, schlechtes Gewissen allüberall – vermutlich, weil wir alles richtig machen und geliebt werden möchten. Am Ende sind wir so irritiert, dass wir uns nichts mehr trauen.

Sogenannte «Kuschelpartys» sollen zu Hautkontakt und Berührungsnähe verhelfen. Könnte nicht stattdessen sanfte «Selbstberührung» über den Hautkontakt wertvolle Stimulation vermitteln?
Die Biochemie, die durch die Berührung eines fremden Organismus ausgelöst wird, lässt sich nicht ersetzen. Die von einem anderen Menschen ausgeführte Berührung aktiviert andere Prozesse als die Eigenberührung – weil diese vom Gehirn protokolliert wird. Das Gehirn ist der Chef und weiss genau, dass die Berührung vom Individuum selbst ausgeführt wird und folglich verringert der Organismus sein Reaktionsmuster. Nehmen wir an, Sie möchten sich am Fuss oder unter der Achselhöhle kitzeln. Das wird Ihnen nicht gelingen, der Kitzelreiz muss von einem anderen Menschen ausgelöst werden. Wenn wir uns im Gesicht berühren, dann findet zwar ebenfalls ein neurophysiologischer Prozess statt, der aber nicht zu vergleiche ist mit dem, was geschieht, wenn ein anderer Mensch unser Gesicht berührt. Die vom Gehirn
ausgeübte Kontrolle ist insofern sinnvoll, als uns die Entwicklung zu sozialen Wesen gemacht hat. Der substanziell andere ist für unser Wachstum und unser Wohlbefinden existenziell wichtig. Selbst die kurze Berührung eines anderen Menschen kann uns biochemisch umhauen: Denken Sie doch nur an den Zustand grosser Verliebtheit, der ein Individuum so verändern kann, dass es kaum wiederzuerkennen ist.

Ein deutscher Chirurg, der vor etwa 150 Jahren gelebt hat, soll gesagt haben: «Von der Haut aus kann man die Seele pflegen.» Geben Sie ihm recht?
Bestimmte seelische Prozesse im menschlichen Miteinander entfalten sich tatsächlich nur über den Körperkontakt. Menschen leben miteinander, streiten miteinander. Um sich wieder gut zu fühlen, reicht es oft nicht, dass man nur redet und redet. Manchmal muss man sich am Ohr zupfen, die Sache gut sein lassen und mit einer Umarmung beenden. Wir bestehen eben nicht nur aus Geist und einem Gehirn, das unseren Körper von A nach B bewegt. In allen unseren Fasern sind wir eine körperliche Existenz. Ich pflege oft zu sagen: «Selbst wenn wir uns Handys in den Körper einnähen lassen, bleiben wir Säugetiere.» Würden wir uns mehr als Säugetiere begreifen, verstünden wir besser, weshalb wir ein so grosses Bedürfnis nach Berührung und Hautkontakt haben.

Beobachtung, Forschung, Erkenntnis
Als Emilie, die Zweitgeborene der Familie Grunwald, acht Monate alt war, gehörte eine Anzahl Nuggi zur Babyausstattung. Aber wie das manchmal so geht: Ein Gegenstand wird dringend benötigt, ist aber unauffindbar. Im Hause Grunwald machte man sich eines Abends auf Schnuller-Safari, man wurde fündig, reinigte das Objekt sorgfältig: Aber Emilie spukte den Nuggi angewidert aus. Ein weiterer Versuch mit einem Nuggi vom genau gleichen Typ misslang ebenfalls. Bis schliesslich ein dritter Nuggi von Emilie akzeptiert wurde und genüssliches Nuckeln ermöglichte. Weshalb wurde von drei bereits in Gebrauch befindlichen, gleich geformten und aus demselben Material bestehenden Schnullern nur einer für gut befunden? Die Struktur des akzeptieren Nuggis musste sich wohl um einen halben Millimeter anders angefühlt haben als bei den anderen Modellen. Baby Emilies hochsensibler Tastsinn hatte den winzigen Unterschied wahrgenommen. Und vor ihrem Vater Martin Grunwald tat sich ein unglaublich weites Forschungsgebiet auf, an dem die Medizin und die Psychologie genauso interessiert sind wie die Produkteforschung.

*Prof. Dr. Martin Grunwald ist Psychologe und Leiter des von ihm gegründeten Haptik-Labors am Paul-Flechsing-Institut für Hirnforschung an der Universität Leipzig.