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Lebensanker: Was gibt unserem Leben Halt?

Kaum ein Leben bleibt frei von schicksalhaften Belastungen, von Enttäuschungen und anderen Irritationen. Dr. Wolfgang Krüger, in Berlin tätiger Psychologe, Psychotherapeut und Autor, zeigt auf, was unserem Leben Stütze und Halt geben kann.

Wolfgang Krüger, ist in erster Linie die Familie in der Lage, Halt und Beistand zu geben?
Dr. Wolfgang Krüger*: Angenommen, ein Mensch hat die frühen und prägenden Jahre seiner Kindheit mit Eltern und Geschwistern erlebt und seine Erfahrungen in diesem Familienverbund waren gut, dann hat er einen Schatz an Gemeinsamkeiten mitbekommen, die ihm Wurzeln und Halt geben. Aber es geht eben nicht in jeder Familie gut und es fehlt häufig an Stabilität. Grundsätzlich muss man in Betracht ziehen, dass die Familie in unserer Zeit immer weniger Sicherheit vermittelt.

Ist Sicherheit verloren gegangen, weil wir in einer Multioptionsgesellschaft leben, die unterschiedliche und auch unverbindliche Formen des Gemeinschaftslebens ermöglicht?
Entscheidend ist vor allem die Aufkündigung des Generationsvertrags. Bis vor dreissig Jahren war klar, dass man sich im Familienverband gegenseitig beistand – selbst dann, wenn man sich nicht eng verbunden fühlte. Das Prinzip der unbedingten gegenseitigen Hilfe erzeugte gesellschaftliche Sicherheit, die auch in Krisen und Kriegszeiten Beistand und Rückhalt bot. Heute gibt es das nicht mehr, die lebenslängliche Familienbindung ist aufgekündigt. Was uns nun aber auch das Recht gibt, etwa die Verpflichtung zur Pflege eines Angehörigen abzulehnen oder sich davon loszusagen, bevor es zu einem Burn-out kommt.

Die erweiterte Entscheidungsfreiheit geht mit einem Verlust an Stabilität einher?
So ist es. Wir sehnen uns nach mehr Freiheit und wollen diese engen familiären Bindungen, die eben auch problematisch sein können, auflösen. Nun ist die Situation so, dass wir versuchen müssen, auf anderen Ebenen familienähnliche Verbindungen herzustellen. Auf der Ebene der Partnerschaft gelingt dies zunehmend. In westeuropäischen Ländern steigt die Dauer von Partnerschaften seit zehn Jahren kontinuierlich.

Was verstehen Sie unter familienähnlichen und Halt vermittelnden Bindungen?
Im Berliner Bezirk, in dem ich lebe, nehme ich an Initiativen teil, die dafür sorgen, dass ältere Menschen sich von der Gemeinschaft gehalten fühlen können. So wurden Netzwerke gebildet, die möglichst verhindern, dass ein Mensch zum Pflegefall wird. Netzwerk meint in diesem Zusammenhang, dass grössere Gruppen gebildet werden, die gemeinsam Aufgaben bewältigen. In meinem Umfeld kann dies bedeuten, dass die Mitglieder einer Gruppe abwechslungsweise jeweils einen Tag lang eine Betreuungsaufgabe übernehmen.

Eines Ihrer Bücher hat den Titel «Freundschaft: beginnen – verbessern – gestalten.» Eine Freundschaft, die das Gefühl von Sicherheit vermittelt, verlangt auch Einsatz?
Bei einer Umfrage in Deutschland haben viele Befragte festgestellt, dass sie sich um ihre Freundschaften zu wenig kümmern. Auf freundschaftliche Beziehungen muss man sich einlassen wollen und dann auch aktiv etwas dafür tun. Nimmt man das Thema Einsamkeit in den Fokus, wird deutlich, dass Freundschaft auch im erweiterten Sinn verstanden werden darf – etwa in nachbarschaftlichen Kontakten oder in Gruppierungen von Gleichgesinnten, die sich um die Mitwelt kümmern. Unter Umständen können in diesem Umfeld auch ganz persönliche Bindungen und eine freundschaftliche Vertrautheit entstehen, die es einem erlauben, sogar über sehr intime Themen zu sprechen.

Wird der Begriff Freundschaft nicht häufig zu rasch oder zu oberflächlich gebraucht?
Der Begriff Freundschaft wird etwa dann inflationär gebraucht, wenn Politiker einander als Freunde bezeichnen oder wenn sich jemand mit seinen eintausend Facebook-Freunden brüstet. Echte Freundschaft zeichnet sich durch einen hohen Grad an Verlässlichkeit und Ehrlichkeit aus. Marlene Dietrich hat einmal gesagt, einen guten Freund könne man in einer Notsituation auch morgens um vier Uhr anrufen. Mit der guten Freundin, dem guten Freund kann man sogar über die schwierige Beziehung zur eigenen Mutter sprechen oder darüber, dass in der Ehe kaum noch was läuft oder dass man oft unter Stimmungsschwankungen leidet. In solch einer nahen Verbindung gibt es keine Tabugrenzen, man ist aufgehoben in einer Herzensfreundschaft. In einer Durchschnittsfreundschaft dagegen – «Wie geht es Dir?»/«Na ja, eigentlich gut.» – gibt es diese tiefe Vertrautheit nicht.

Darf man in einer Herzensfreundschaft auch zu seinen Schwächen stehen und darauf verzichten, sich grösser zu machen, als man ist?
Grundsätzlich ja, aber dem männlichen Geschlecht fällt dies schwerer als Frauen. Viele Männer meinen noch immer, sie müssten Helden sein und der starke Mann steht derzeit wieder hoch im Kurs. In Männerfreundschaften kommt oft auch eine gewisse Rivalität auf, die der Beziehung nicht förderlich ist. Wenn wir vom hohen und Halt vermittelnden Wert der Freundschaft sprechen, dürfen wir aber die wichtigste Beziehung nicht vergessen.

Welche wäre das?
Es geht um die Beziehung zu sich selbst. Sie sollte der Schwerpunkt unseres Lebens sein und Selbstachtung ist der Halt, der uns auch durch unruhige Zeiten durchtragen kann. Wir sollten der Kernpunkt unseres Lebens sein und wissen, auf welche positiven Eigenschaften wir uns verlassen können.

Abgesehen vom materiellen Aspekt: Wie wichtig sind Arbeit und berufliches Umfeld für das Gefühl von Sicherheit und Lebenszufriedenheit?
Die Antwort geht selbstverständlich in zwei Richtungen. Die Arbeit kann mich ständig derart überfordern, sodass ich mich ohnmächtig fühle, weil ich die Leistung nicht bringen kann. Andererseits weiss man, dass es zwei Quellen des Glücks im Leben gibt: Soziale Beziehungen, also Freundschafts- und Liebesbeziehungen – und eine Arbeit, die ich gerne verrichte und die mir immer wieder ein Flow-Erlebnis schenkt. Was bedeutet, dass ich mich regelmässig wie getragen fühle vom Empfinden, mich einer Aufgabe zu widmen, die ich als sinnvoll erachte und bei der ich auch Erfolg erleben kann.

Die Anzahl der Menschen, die im Leben beachtlich Erfolge oder sportliche Höchstleistungen erzielen, dürfte aber eher gering sein.
Bei der Flow-Theorie des ungarischen Glücksforschers Csíkszentmihályi muss es nicht um grossartige Geschichten gehen. Wichtig ist einzig, dass ich das, was ich tue, als so wertvoll und sinnvoll erachte, dass ich bei meiner Tätigkeit manchmal Raum und Zeit vergesse. Als Beispiel: Ich bin an einer Gartenkolonie beteiligt und habe da mehrere Obstbäume und Beerensträucher gepflanzt, von deren Ertrag sich jeder bedienen darf. Über den Erfolg dieser Aktion OFA = «Obst für alle» freue ich mich sehr, sie vermittelt mir ein Flow-Gefühl.

Eine Gebrauchsanweisung für die Substanz, die unserem Leben Halt und Sinn vermittelt, gibt es wohl kaum. Können Sie aber doch immerhin eine Wegleitung geben?
In unserem Leben müssen wir zwei Dinge hinbekommen. Wir müssen lernen, wie die Liebe gelingt. Wir erreichen dies vor allem dann gut, wenn wir zu uns selbst eine gute Beziehung gefunden haben. Wenn ich selbstbewusst und ausgeglichen und überdies fähig bin, Konflikte gut zu klären, dann gelingt die Liebe am besten. Der zweite Faktor: Weil die familiären Strukturen nicht mehr so tragfähig sind wie ehedem, sind Freundschaften lebenswichtig geworden. Eine gute Freundschaft stärkt unsere innere Stabilität, sie macht glücklich, selbstsicher – ja die Beheimatung im emotionalen Dorf der Freundschaft wirkt sogar gesundheitsfördernd und lebensverlängernd.

* Dr. Wolfgang Krüger ist Psychologe, Psychotherapeut und Autor in Berlin (www.dr-wolfgang-krueger.de).