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Hilfe für das hyperaktive Kind

Hyperaktiven Kindern werden teils Medikamente verordnet, die dem Betäubungsmittelgesetz unterliegen. Für Dr. med. Heiner Frei, Spezialarzt FMH für Kinder und Jugendliche, sind diese Arzneien jedoch kein Allheilmittel. Als ausgewiesener Homöopath hat er einen anderen Zugang zum Krankheitsbild.

Herr Dr. Frei, welche Merkmale deuten darauf hin, dass ein Kind nicht einfach nur sehr lebhaft ist, sondern unter einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, leidet?
Dr. med. Heiner Frei*:
Es wird zwischen ADHS und ADS unterschieden. Zur Diagnose ADHS gehören die Elemente Aufmerksamkeitsstörung, Unruhe und Impulsivität, zu ADS dieselben, aber statt unter Unruhe leiden diese Kinder unter Passivität. Die Auffälligkeiten müssen zudem vor dem sechsten Lebensjahr auftreten, während mindestens sechs Monaten andauern und verschiedene Settings betreffen, zum Beispiel Familie und Schule. In der Regel kann die Diagnose von Fachleuten bereits im Kleinkindesalter gestellt werden. Die neuropsychologischen Untersuchungen müssen aber dem Alter des Kindes angepasst werden. Manchmal kann die Abgrenzung gegenüber einem Asperger-Syndrom schwierig sein. Dieses weist aber zusätzliche Elemente auf, die bei ADHS nicht vorhanden sind, z. B. eine fehlende oder stark verminderte Fähigkeit, soziale Kontakte aufzunehmen, fehlendes Einfühlungsvermögen und stereotypes Spielen – immer das Gleiche, auf die gleiche Weise und dies während Jahren. Typischerweise nehmen Asperger-Patienten keinen Blickkontakt auf, wenn sie mit jemandem sprechen.

Wie äussern sich Aufmerksamkeitsstörungen bei einem kleinen, drei- bis vierjährigen Kind?
Ein erfahrener Kinderarzt merkt bereits bei den Vorsorgeuntersuchungen im Säuglingsalter, dass ein Kind Wahrnehmungsstörungen hat. Betroffene Säuglinge weinen überdurchschnittlich viel, sind schreckhaft und haben oft Ernährungs- und Schlafprobleme. Manchmal überspringen sie Entwicklungsschritte, gehen z. B. vom Sitzen ohne zu krabbeln direkt zum Stehen und Gehen über, was einer harmonischen grobmotorischen Entwicklung abträglich ist. Oft verlangen sie auch die dauernde Aufmerksamkeit der Eltern, was sehr häufig zu Überforderungssituationen führt.

Können während der vorgeburtlichen Phase auftretende Schwierigkeiten ADS/ADHS begünstigen oder gar verursachen?
Man geht heute davon aus, dass das ADS/ADHS in der Regel genetisch bedingt ist. Sehr oft haben einer oder sogar beide Elternteile ebenfalls Symptome einer Wahrnehmungsstörung. Natürlich können Probleme in der Schwangerschaft, Nikotin- und Alkoholmissbrauch oder eine Plazentainsuffizienz, bei der das Kind nicht ausreichend über den Mutterkuchen versorgt wird, zu solchen Symptomen führen. Auch frühgeborene Kinder leiden oft unter Wahrnehmungsstörungen.

Trifft die landläufige Meinung zu, dass heute die hyperaktiven Kinder zu rasch mit Medikamenten, die dem Betäubungsmittelgesetz unterliegen, ruhiggestellt werden?
Das trifft meiner Ansicht nach zu. Vor allem in den Schulen wird sehr schnell und ohne genaue Kenntnisse danach verlangt.

Was bedeutet, dass man zu wenig weiss von Nebenwirkungen oder Spätfolgen?
Man kann nicht sagen, dass man zu wenig über die Nebenwirkungen von solchen Substanzen weiss. Das bei ADHS häufig verwendete Methylphenidat ist medizinisch gesehen uralt, es wird seit den Vierzigerjahren des letzten Jahrhunderts routinemässig eingesetzt. Die möglichen Nebenwirkungen sind vielfältig und bekannt. Methylphenidat ist ein Amphetamin, mit dem Kokain verwandt, hat ein entsprechendes Suchtpotenzial und fällt eben deshalb auch unter das Betäubungsmittelgesetz. Problematisch ist der immer häufiger werdende Einsatz des Mittels. 1996 wurden in der Schweiz gesamthaft zehn Kilogramm Methylphenidat verschrieben. 2011 waren es bereits 349 Kilogramm, und der Trend ist ungebrochen. Hier wissen wir nicht, welche Langzeitfolgen die Medikation auf die Patienten, aber auch auf die Gesellschaft hat. Grundsätzlich sollte eine solch bedenkliche Entwicklung eine ernsthafte gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Diskussion auslösen. Aber davon ist weit und breit nichts zu sehen.

Welche therapeutischen Massnahmen hat die Homöopathie anzubieten?
Die Homöopathie kann bei gut 80 Prozent der betroffenen Kinder eine deutliche Besserung bewirken. In der Elternbeurteilung der zehn wichtigsten ADHS-Symptome zeigt sich, dass sich diese im Langzeitverlauf durchschnittlich um 63 Prozent bessern. Entscheidend ist, dass das homöopathische Arzneimittel genau auf die individuelle Kombination der Wahrnehmungssymptome passt. Oft braucht es einige Monate, bis das bestgeeignete Mittel gefunden ist. Deshalb ist die Homöopathie nicht für Notfälle geeignet, in denen eine Krisensituation, wie sie bei ADHS-Patienten nicht selten auftreten kann, sofort entschärft werden muss. Im Übrigen geht es – wie bei Methylphenidat – um eine sich über mehrere Jahre erstreckende Dauertherapie. Die einmal erreichte Besserung bleibt jedoch auch nach dem Absetzen der Arzneimittel weitgehend bestehen.

Wie unterscheiden sich die Wirkungsmechanismen von homöopathischen Mitteln im Vergleich zu verordneten Amphetaminen?
Arzneistoffe wie Methylphenidat hemmen die Wiederaufnahme von Neurotransmittern wie Dopamin an den Übertragungsstellen im Nervensystem. Infolge dieser Hemmung erhöht sich die Konzentration der Botenstoffe und ihre Wirkung hält länger an, was zu den pharmakologischen Wirkungen wie Konzentrationssteigerung, verbesserter Ausdauer und verminderter Unruhe führt. Auch die Homöopathie erzielt diese Wirkungen, aber ihr Wirkungsmechanismus ist nach wie vor ungeklärt. In unserer Doppelblindstudie konnten wir nachweisen, dass sich die Wirkung der Homöopathie klar von Placebo unterscheidet, d. h. dass sie wirksamer ist als ein Scheinmedikament. Wie sie wirkt, muss durch intensive weitere Forschung geklärt werden. Arbeiten dazu sind weltweit an verschiedenen Orten im Gange, unter anderem auch im Bereich der Physik (Nanopartikelforschung). Man darf aber auf keinen Fall den wissenschaftlichen Fehlschluss machen, dass ein unbekannter Wirkungsmechanismus bedeutet, dass etwas keine Wirkung hat. Auch in der Schulmedizin sind nur gerade 15 Prozent der Behandlungen «evidenzbasiert», stützen sich also auf eine bewiesene Wirksamkeit.

Gehören Ernährung und Bewegung ebenfalls zum Therapiekonzept?
Bei der Ernährung ist vor allem wichtig, dass vom Körper rasch aufgenommene Kohlehydrate, wie sie beispielsweise in Süssigkeiten enthalten sind, vermieden werden. Diese führen zu einem schnellen Insulinanstieg und einer nachfolgenden Unterzuckerung, welche die Symptome der Kinder noch verstärkt. Generell ist ein englisches Frühstück – also Porridge (Haferbrei), Speck und Spiegelei statt wie herkömmlich Brot, Butter und Konfitüre – für ADS-/ADHS-Kinder sehr viel günstiger. Gezielte Bewegung und Sport usw. sind ebenfalls sehr wichtig. Als weitere Alternativtherapien kommen Ginkgo-Präparate und Omega-3- und -6-Fettsäuren infrage.

Sind diese Kinder auch Opfer unserer zu Reizüberflutungen neigenden Zeit?
Ja, sie sind schon auch Opfer einer Reizüberflutung, insbesondere der allgegenwärtigen Medien, deren Konsum oft suchtartige Ausmasse annimmt. Früher war die Gesellschaft strukturierter. So gab es in der Schule den Frontalunterricht statt des heute üblichen Werkstattunterrichts. Dieses Unterrichtssystem kam Kindern mit Wahrnehmungsstörungen sehr entgegen, sie wurden deshalb auch nicht so schnell verhaltensauffällig.

* Dr. med. Heiner Frei ist Spezialarzt FMH für Kinder und Jugendliche mit eigener Praxis für integrative Pädiatrie in Laupen.