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Gewichtsverlust im Alter: Gefahrenzone Untergewicht

Untergewicht ist ein ebenso ernstes medizinisches Thema wie Übergewicht. Prof. Dr. med. Peter Ballmer vom Kantonsspital Winterthur stellt fest, dass Mangelernährung nicht unterschätzt werden darf.

Herr Professor Ballmer, wann kann von Untergewicht gesprochen werden?
Prof. Dr. med. Peter Ballmer:
Hat jemand im Verlauf einiger Wochen, in drei oder sechs Monaten ungewollt einen substanziellen Gewichtsverlust erlitten, ist dies für den Arzt ein überaus wichtiger Faktor. Massgebend ist somit der Gewichtsverlauf, ausgenommen bei Erkrankungen wie Anorexia nervosa, der nervlich bedingten Appetitlosigkeit. Hinter einem unbeabsichtigten, markanten Gewichtsverlust kann sich ein Tumorleiden verstecken. Falls jemand unter Heisshunger leidet, aber dennoch kontinuierlich an Gewicht verliert, kann eine Schilddrüsenüberfunktion das auslösende Element sein.

In welchen Altersgruppen treten Mangelernährung und in der Folge Untergewicht besonders häufig auf?
Vor einigen Jahren haben wir mit sieben verschiedenen medizinischen Kliniken in der Schweiz eine Studie durchgeführt und nach einem bestimmten Ernährungs-Punktesystem ermittelt, wie viele Patienten dem Risiko einer Mangelernährung ausgesetzt sind. Etwa 20 Prozent waren bereits mangelhaft ernährt oder näherten sich der Risikozone. Die Studie hat ergeben, dass die Tendenz im Alter deutlich steigt. In diesem Zusammenhang ist Sarkopenie ein wichtiges Thema: Vom 30. Lebensjahr an nimmt der Verlust an Muskelmasse schrittweise zu, im höheren Alter ist dieser Verlust besonders gravierend.

Im Alter verlieren viele Menschen die Lust auf randvoll gefüllte Teller und grosse Nahrungsmengen. Was aber führt zu einer bedrohlichen Mangelernährung?
Tatsächlich verringern sich im hohen Lebensalter das Hunger- und vor allem auch das Durstempfinden. Eine im Alter auftretende Mangelernährung kann mit einer Erkrankung, mit Vereinsamung oder mit dem Verlust des sozialen Umfeldes einhergehen – man ist beispielsweise nicht mehr in der Lage, selbst einzukaufen oder zu kochen und nimmt die notwendige Hilfe nicht an. In einer Genfer Gemeinde hat man im Rahmen einer Studie mit dem witzigen Titel «In Frigo Veritas» den Inhalt der Kühlschränke von betagten Einwohnerinnen und Einwohnern in Augenschein genommen. Diejenigen, deren Kühlschrank leer war, hatten ein erhöhtes Risiko, in den darauffolgenden drei Monaten im Spital zu landen. Übrigens spielt im Alter und ebenso bei Krebspatienten auch die Reduktion des Geschmacksempfindens eine wesentliche Rolle: Schmeckt einem die Mahlzeit nicht, fehlt eben die Lust am Essen.

Können rigorose Fastenkuren oder Diäten zu einem gestörten Essverhalten und schliesslich zu Mangelernährung führen?
Abmagerungskuren sind generell Unsinn. Ein rascher Gewichtsverlust wird wieder eingeholt oder sogar überholt. Alles, was schnell passiert, gleicht sich auch schnell wieder aus. Eine Diät mit massiver Beschränkung der Eiweisszufuhr führt zu einer Mangelernährung, die wiederum einen Muskelverlust nach sich zieht. Im Sommer dieses Jahres wird die Eidgenössische Ernährungskommission mit dem Thema «Ernährung bei Betagten» auf die Situation und die extrem wichtige Bedeutung einer ausreichenden Eiweissversorgung aufmerksam machen. Muskelverlust führt zu Kraftverlust, zu Gangunsicherheit, zu Stürzen, zu Knochenbüchen, und oft ist dann der Eintritt in ein Pflegeheim unausweichlich. Zu wenig wird bedacht, dass wir im Alter zwar einen niedrigeren Kalorienbedarf, aber andererseits einen höheren Eiweissbedarf haben.

Welche gesundheitlichen Defizite führen zwangsläufig zu Untergewicht?
Letztlich trifft dies auf fast alle Erkrankungen zu. Auch ein schwer übergewichtiger Mensch kann übrigens Muskelmasse verlieren. Vielleicht kompensiert er den Verlust mit mehr Fett, aber er weist dennoch ein gesundheitliches Defizit auf. Ist ein junger Mensch stark untergewichtig, handelt es sich oft um gesundheitliche Störungen wie Anorexie oder Bulimie. Magersucht und Ess-Brech-Sucht haben in den letzten Jahren zahlenmässig zugenommen, auch bei männlichen Patienten. Noch wissen wir nicht mit Sicherheit, was genau diese Störungen verursacht. Vor allem bei jungen Frauen wird nicht zuletzt das geltende Schönheitsideal Einfluss nehmen.

Was halten Sie von der These, eine quantitativ möglichst reduzierte Ernährung wirke lebensverlängernd oder habe zumindest einen deutlichen Anti-Aging-Effekt?
Die Lebensspanne von Tieren verlängert sich nachweislich, wenn in ihrer Ernährung die Kalorienzufuhr vermindert wird. In der Tat ist es so, dass man sich mit einer erhöhten Nahrungsaufnahme auch einer erhöhten Zufuhr von freien Radikalen und dementsprechenden Oxydationsprozessen im Körper aussetzt, welche das Altern und insbesondere die Entstehung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen fördern. Aber niemand sollte sich unkontrolliert und ohne fachlich ausgewiesene ernährungstherapeutische Begleitung auf solch ein Experiment einlassen, denn leicht gerät er in Defizitzonen wie eben den Eiweissmangel mit entsprechenden schädigenden Folgen – und das ganze Unterfangen wirkt sich kontraproduktiv aus.

Wie ist einem Menschen zu helfen, der chronisch über Appetitlosigkeit klagt und deshalb womöglich einem gefährlichen Untergewicht zusteuert?
Zunächst muss man die Ursache erkennen. Versteckt sich hinter dieser Lustlosigkeit eine Depression, ein Tumorleiden oder eine andere Erkrankung? Findet man keine Spur, geht es um rein symptomatische Ernährungsanweisungen. Die erste Stufe wäre eine Anreicherung der Ernährung mit Eiweisspulver und der Kohlehydratquelle Maltodextrin. Reicht dies nicht aus, werden sogenannte Trinksupplemente (Trinknahrung) angeboten, das sind industriell hergestellte kalorien- und eiweissreiche Drinks. In ganz schweren Fällen – bei denen es meist um ernste Erkrankungen geht – kommt eine Sondenernährung infrage. Funktioniert der Magen-Darm-Trakt nicht mehr, kann eine parenterale Ernährung über die Blutbahn durchgeführt werden.

Mangelernährung ist Fakt
Mangelernährung ist ein grosses und oft zu wenig beachtetes Problem, welches im Alter zunimmt. Mangelernährung führt zu vermehrter Morbidität (Krankheitshäufigkeit), Mortalität (Sterblichkeit) und zu einer eingeschränkten Lebensqualität.
Eindeutig auf die Herz-Kreislauf-Gesundheit unterstützend wirkt die mediterrane Ernährung mit einem hohen Anteil an Gemüse und Früchten, gutem Oliven- und Rapsöl. Der Genuss von rotem Fleisch wird eingeschränkt, und entgegen der landläufigen Meinung kommt auch Fisch bei dieser Ernährungsform relativ selten auf den Tisch.