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Völlig entspannt

Die Berufswelt wird rauer und fordernder, das Leben in all seiner Digitalisierung immer komplexer. Wie kann man in einem permanenten Klima der Anspannung Entspannung finden? Dr. Doris Wolf, Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin, klärt auf.

Frau Dr. Wolf, der wohlmeinende Rat «Entspannen Sie sich doch!» macht die meisten Menschen erst recht nervös und verspannt. Kommt diese negative Reaktion manchmal auch bei Entspannungstechniken vor?
Dr. Doris Wolf*: Ja, natürlich. Entspannen können wir nicht auf Kommando. Eine Aufforderung erzeugt Druck. Druck und Entspannung sind unvereinbar. Um entspannen zu können, müssen wir unserem Körper vertrauen und uns die Erlaubnis geben, die Kontrolle loszulassen.

Ab und zu tut einem eine Ablenkung gut. Was unterscheidet Ablenkung von Entspannung?
Ablenkung bedeutet, wir konzentrieren uns auf etwas Neutrales oder Wohltuendes. Beispielsweise unterbrechen wir damit unser Pflichtprogramm oder unsere Grübeleien. Wir kommen dann zu einer geistigen Entspannung. Dies muss aber nicht mit einer körperlichen Entspannung einhergehen.

Was entgegnen Sie jemandem, der sagt «Ich brauche keine Entspannungstechniken, ich mache Sport»?
Körperliche Aktivität ist eine Möglichkeit, Anspannung abzubauen. Ob dies gelingt, hängt aber von vielen anderen Faktoren ab – beispielsweise, um welche Sportart es sich handelt und mit welcher inneren Haltung wir diesen Sport betreiben. Es versteht sich von selbst, dass Ehrgeiz und Leistungsdruck nicht zu einer Entspannung führen. Die Einsatzmöglichkeiten sind auch eingeschränkt, denn wir können nicht zu jeder Zeit sportlich tätig sein. Gut ist es, wenn man in seinem Repertoire beide Möglichkeiten der Entspannung hat – Sport und ein Entspannungsverfahren.

In welchen Fällen raten Sie als Psychotherapeutin dringend zu einem Kurs für Entspannungstechnik?
Mindestens eine Entspannungstechnik sollte jeder von uns beherrschen, denn es gibt im Alltag von uns allen Situationen, die mit Anspannung und negativen Gefühlen wie Ärger oder Angst einhergehen. Dringend benötigen aber beispielsweise Menschen mit einer Angststörung, Schmerzen in den unterschiedlichsten körperlichen Regionen und Menschen in Stress-/Krisensituationen wie Todesfall, Trennung, Entlassung usw. eine Strategie, um innere Spannung abzubauen.

Können Entspannungstechniken bei Einschlaf- und Durchschlafstörungen hilfreich sein?
Ja, das ist ein bewährter Einsatzbereich. Wichtig ist dabei aber auch unsere innere Haltung. Wir dürfen nicht fordern: «Jetzt mache ich die Entspannungsübung und MUSS jetzt einschlafen.» Hilfreicher ist eine Einstellung wie etwa «Ich konzentriere mich jetzt auf meinen Atem, wie er kommt und geht. So wird sich mein Körper entspannen und zur Ruhe finden. Störende Gedanken lasse ich ziehen wie die Wolken am Himmel.»

Gibt es bestimmte Kriterien, die sagen können, welche Methode einem am ehesten entspricht?
Anerkannte Kriterien gibt es nicht. Wenn Menschen sehr zum Grübeln neigen, empfehle ich die progressive Muskelentspannung nach Jacobson, weil wir bei dieser Technik aktiv etwas tun können. Wer sehr unruhig und angespannt ist, dem hilft eher Bewegung. Im Grunde müssen wir aber selbst ausprobieren, was uns in welcher Situation am besten beruhigt und entspannt.

In welchen Situationen oder bei welchen Gemütszuständen sind Entspannungstechniken eher schädlich als nützlich?
Entspannungstechniken funktionieren nicht oder schaden, wenn die Anwender aufgrund von Schmerzen nicht lange still sitzen oder liegen können. Wenn Menschen Angst vor Krankheiten haben, kann die Konzentration auf den Körper die Angst erhöhen. Auch für Menschen mit einer akuten Psychose sind Entspannungsübungen nicht geeignet.

Bei der Methode des autogenen Trainings liegt die Betonung auf «Training». Ist regelmässiges Training auch bei allen anderen Methoden die Grundvoraussetzung für deren Wirksamkeitsgrad?
Generell gilt: Je besser wir eine Technik geübt und verinnerlicht haben, umso eher erinnern wir uns in Krisensituationen an sie und können sie nutzen. Je mehr Übung wir haben, umso besser greift die Technik und verhilft uns zur Entspannung. Ich würde aber sagen, die Emotional Freedom Technique EFT (Kurzbeschreibung siehe «Entspannen und zur Ruhe finden») und die Spontan-Entspannungs-Technik erfordern nicht ganz so konsequentes Training wie die anderen Verfahren.

Welche Hilfe bieten Entspannungstechniken beispielsweise bei einem schweren Paarkonflikt oder Existenzängsten?
Hier sind Entspannungstechniken nur eine Begleittechnik. Sie können kein Problem lösen. Doch können wir, wenn wir entspannter sind, kreativer und selbstbewusster sein und leichter eine Lösung finden. Wir sind in der Lage, bei einem Konflikt mit dem Partner gelassener zuzuhören und fühlen uns nicht so schnell angegriffen.

Wie finden Sie für sich selbst wohltuende innere Ruhe?
Ich meditiere täglich, nutze in Krisensituationen auch das EFT. Entspannend ist für mich auch Nordic Walking in der Natur.

Entspannen und zur Ruhe finden – Eine Reihe von Techniken aus dem grossen Methoden-Angebot

Atemtechnik: Atemübungen begünstigen die Tiefenatmung, wirken auf die inneren Organe ein und führen zu Lockerung und Entspannung.
Autogenes Training: Im Liegen oder auch sitzend schrittweise Entspannung der Muskulatur, beginnend bei den Armen. Zur Anwendung kommen suggestive Formeln wie «Ich bin ganz ruhig …»
Biofeedback: Bestimmte Körperfunktionen wie Puls oder Hirnströme werden mit elektronischen Hilfsmitteln akustisch wahrnehmbar und für die Entspannung nutzbar gemacht.
Emotional Freedom Technique (EFT): Am Oberkörper, im Kopfbereich und an den Händen werden mit Klopfbewegungen bestimmte energetische Punkte aktiviert.
Meditation: Versenkung in vollkommener Ruhe. Verschiedene Richtungen wie Achtsamkeitsmeditation, geführte Meditation oder meditative Übungen mit einem religiösen Hintergrund.
Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson: Einzelne Muskelgruppen werden angespannt und entspannt und der Lernende erfährt die Harmonisierung dieser beiden Elemente.
Qigong: Fernöstliche Methode. Langsame, harmonisch fliessende Bewegungsabläufe mit meditativem Effekt.
Yoga: Ursprünglich religiöse Übungen aus Indien. Training verschiedener Körperstellungen, die zusammen mit Atemübungen Entspannungsreaktionen bewirken.

Entspannungsübungen, ohne Aufwand praktisch überall anwendbar

Sonnengeflecht: Legen Sie Ihre Hand mit leicht gespreizten Fingern ohne Druck auf die Magengrube unterhalb der Rippen, auf die Region des Sonnengeflechts. Ihr Mittelfinger befindet sich etwa in Nabelhöhe. Atmen Sie tief ein und stellen Sie sich vor, wie sich über die Schultern und Arme Wärme und Ruhe ausbreiten und auf Ihre Körpermitte ausstrahlen, ausatmen. Drei- bis viermal wiederholen.

Spontan-Entspannungs-Technik: Atmen Sie etwas tiefer ein, als Sie dies gewöhnlich tun. Dann atmen Sie – ohne den Atem nach dem Einatmen anzuhalten – in einer Bewegung wieder aus. Wenn Sie ausgeatmet haben, halten Sie Ihren Atem für etwa sechs bis zehn Sekunden an. Finden Sie selbst heraus, welche Zeit für Sie am angenehmsten ist. Zählen Sie in Gedanken von 1001 bis 1006 oder 1010 … Nachdem Sie den Atem angehalten haben, atmen Sie wieder ein, atmen in einer Bewegung wieder aus, ohne den Atem anzuhalten, und halten ihn dann für weitere sechs bis zehn Sekunden an. Wiederholen Sie diese Atemübung zwei bis drei Minuten bzw. so lange, bis Sie deutlich entspannter und ruhiger sind. Sie können diese Übung vor dem Einschlafen am Abend, beim Warten vor dem Prüfungszimmer und in vielen anderen Situationen einsetzen.

Die Übung basiert auf dem Prinzip, dass die Sauerstoffzufuhr reduziert wird. Dies hat zur Folge, dass Sie weniger Energie zur Anspannung einsetzen können und durch das Zählen auf neutrale Gedanken kommen.

Literaturhinweis
Doris Wolf & Rolf Merkle: CD Tiefenentspannung nach Jacobson. PAL Verlag, Mannheim, ISBN: 978-3-923614-71-4.
Doris Wolf & Rolf Merkle: Gefühle verstehen, Probleme bewältigen. Eine Gebrauchsanleitung für Gefühle. PAL Verlag, Mannheim, ISBN: 978-3-923614-18-9.

*Dr. Doris Wolf ist Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin in Mannheim.