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Schmetterlingskinder: Wenn jede Berührung zur Gefahr wird

Für Kinder, die an der Schmetterlingskrankheit (Epidermolysis bullosa) leiden, sind Herumtoben und Fussballspielen tabu. Jedes Anrempeln, jede Reibung der Haut, die bei ihnen so zart ist wie ein Schmetterlingsflügel, können zu Blasen oder zum Ablösen der Haut führen. Wie aber kann es dazu kommen?

Susanna Steimer Miller

Wie viele Menschen sind in der Schweiz von der Schmetterlingskrankheit betroffen?
Dr. med. Carolina Gouveia*: Als seltene Erkrankung ist sie nicht häufig anzutreffen. In der Schweiz leben rund 130 Menschen mit der damit, wobei sie bei beiden Geschlechtern gleich oft auftritt.

Gibt es Faktoren, die das Risiko, daran zu erkranken, erhöhen?
Die Schmetterlingskrankheit ist genetisch bedingt. Das Risiko ist erhöht, wenn die Erkrankung in der Familie vorkommt oder bei einer Heirat unter Blutsverwandten.

Welches sind die Ursachen?
Verantwortlich dafür ist ein Fehler in der DNA. Ein Kind erkrankt dann, wenn Vater und Mutter, die beide diesbezüglich gesund sind, Träger eines bestimmten Gens sind. Die Chance, im Lotto zu gewinnen, ist grösser als das Risiko, dass zwei Elternteile dieses fehlerhafte Gen weitergeben. Wenn ein Elternteil hingegen von einer milden Form der Krankheit betroffenen ist, liegt das Risiko, dass das Kind erkrankt, bei fünfzig Prozent.

Wie äussert sich die Schmetterlingskrankheit?
Betroffenen fehlen bestimmte Proteine, die die verschiedenen Hautschichten zusammenhalten. Dadurch können sich diese leicht voneinander lösen. Je nach Lage kommt es in den Lücken zur Bildung von Blasen, die mit einer eiweissreichen Flüssigkeit oder mit Blut gefüllt sind. Druck oder Reibung reichen dafür aus. In schweren Fällen können die Blasen auch spontan entstehen.

Gibt es unterschiedliche Formen der Krankheit?
Heute kennen wir weit über tausend Mutationen in mehr als zwanzig verschiedenen Genen. Bei einer milden Form kann Reibung kleine Wunden oder Blasen auf der Hautoberfläche hervorrufen, die ohne Narbenbildung heilen. Bei schweren Formen entstehen Blasen in der Tiefe zwischen der Oberhaut und der Lederhaut und es kommt oft zu einer grossen Wunde – die Haut blutet und vernarbt.
Manchmal sind auch die Schleimhäute im Mund und im Verdauungstrakt betroffen. Durch die Krankheit bildet sich zu wenig Speichel und das Kariesrisiko steigt. In manchen Fällen bilden sich in der Speiseröhre Vernarbungen, die das Schlucken erschweren. Bei manchen Kindern entstehen sogar an den Augen Blasen, wenn sie sie öffnen.

Wann wird die Diagnose gestellt?
Bei manchen Kindern erkennt man die Krankheit bei der Geburt, zum Beispiel wenn die Haut während der Passage durch den Geburtskanal an einem Arm oder an einem Bein komplett abgerieben wird. Milde Formen zeigen sich spätestens im Krabbelalter.

Welche Komplikationen sind möglich?
Durch die ständige Blasenbildung und den Verlust von Haut verliert der Körper Blut und Eiweiss. Die Hauterneuerung braucht viel Energie, die Betroffenen für ein altersgerechtes Wachstum fehlt. Oft bleibt auch die Pubertät aus. Häufig führt die Krankheit zu Mangelernährung und Blutarmut. Weil sich Betroffene nicht im Freien an der Sonne bewegen können, leiden sie an einem Vitamin-D-Mangel und an Osteoporose. Sie sind permanent in einem Entzündungszustand. Die Wunden können sich infizieren und zum Tod führen. Einige Betroffene verlieren die Finger- und Zehennägel oder Finger und Zehen wachsen zusammen, was sie im Alltag stark behindert. Die Gelenke können versteifen, was die Mobilität reduziert. Schluckstörungen erfordern manchmal die Ernährung über eine Sonde. Bei schweren Formen ist das Hautkrebsrisiko erhöht.

Wie wird die Krankheit heute behandelt?
Blasen müssen eröffnet werden, damit sie nicht grösser werden und die Flüssigkeit abfliessen kann. Die Wunde muss gut desinfiziert, mit einem narbenfördernden Präparat behandelt, mit einem Spezialverband, der nicht kleben darf, abgedeckt und einer elastischen Binde fixiert werden. Diese Prozedur nimmt täglich etwa vier bis sechs Stunden in Anspruch. Da die Hautverletzungen sehr schmerzhaft sind, brauchen Betroffene eine Schmerzbehandlung. Ein weiteres Problem ist der quälende Juckreiz während des Heilungsprozesses.
Auch die Ernährung muss angepasst werden: Sie muss mehr Eiweiss, Vitamine und Mineralstoffe wie Eisen und mehr Energie enthalten. Sind der Mund und die Speiseröhre betroffen, kann das Kind oft nur Brei essen.
Die Krankheit kann zu Verstopfung führen, die ebenfalls behandelt werden muss. Für den Erhalt der Handbeweglichkeit braucht es Ergotherapie, um dem Muskelschwund entgegenzuwirken Physiotherapie. Bei Problemen mit der Speiseröhre muss ein Magen-Darm-Spezialist hinzugezogen werden. Sind zum Beispiel Finger zusammengewachsen, braucht es einen Chirurgen. Die Behandlung der Krankheit erfordert also ein multidisziplinäres Team.

Kann die Krankheit geheilt werden?
Nein, das ist bis heute nicht möglich. Bei der Behandlung geht es vor allem um die Wundversorgung und die Schmerzlinderung. Es werden auch Medikamente eingesetzt, die die Entzündung und die Vernarbung reduzieren. Heute wird viel geforscht, vor allem im Bereich der Gentherapie, mit dem Ziel, das fehlende Protein eines Tages zu ersetzen oder die Vernarbung zu verbessern.

Wie wirkt sich die Krankheit auf die Lebensqualität aus?
Je nach Schweregrad sind Betroffene stark beeinträchtigt. So können alltägliche Handlungen wie Haarekämmen oder Zähneputzen äusserst schmerzhaft sein. Manche Kinder können nur Spezialkleidung tragen. Weil Stösse und Stürze unbedingt vermieden werden müssen, können sie nicht mit anderen spielen. Einige können nicht schreiben und nicht essen. Ihr Bett muss speziell weich sein. Oft verpassen sie wegen der häufigen Verbandswechsel Schulstunden. Die Krankheit erfordert viel Verständnis von Lehrerpersonen und Mitschülerinnen und Mitschülern. Manche Kinder werden gehänselt oder ausgegrenzt, weil andere sich vor einer Ansteckung fürchten. Bei den leichten Formen ist ein fast normales Leben möglich.

Was bedeutet die Krankheit für die Familie?
Die Krankheit ist sehr belastend, da die Wunden mehrmals pro Tag versorgt werden müssen und das Kind oft zum Arzt muss. Auch die psychische Belastung ist enorm. Viele Eltern sind immer wieder im Zwiespalt: Sie müssen Verbände wechseln, obwohl dies für ihr Kind äusserst schmerzhaft ist. Ohne Behandlung könnte es aber sterben. Sie können es nie allein lassen, weil immer ein Notfall droht. Meist können nicht mehr beide Eltern berufstätig sein. Sind Geschwister da, plagt sie das schlechte Gewissen, weil sie sich diesen zu wenig widmen können.

Wie sieht die Lebenserwartung der Betroffenen aus?
Leichte Formen beeinflussen die Lebenserwartung nicht. Schwer betroffene Kinder sterben oft schon kurz nach der Geburt, andere haben eine Lebenserwartung zwischen zwanzig und dreissig Jahren.

* Dr. med. Carolina Gouveia leitet die Sprechstunden für Epidermolysis bullosa am Inselspital Bern.