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Schmerzen: Lebensnotwendig und doch einschränkend

Schmerzen spürt jeder Mensch in seinem Leben. Was wir tun können, damit akuter Schmerz nicht chronisch wird, erklärt der Schmerzspezialist Dr. André Ljutow, Leiter des Zentrums für Schmerzmedizin am Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil, im Gespräch.

Akuter Schmerz ist lebensnotwendig. «Er ist ein Signal und zeigt, dass etwas in unserem Körper nicht stimmt», sagt André Ljutow*. Wer die Hand einmal auf eine heisse Herdplatte gelegt hat, tut dies beispielsweise kein zweites Mal mehr. Wer aufgrund einer Genmutation – weltweit sind nur gut 20 Fälle bekannt – keinen Schmerz verspürt, ist hingegen jeden Tag akut gefährdet. «Den Gefahren wird nicht ausgewichen. Bei Stürzen drohen Knochenbrüche oder das Messer schneidet in die Haut, ohne dass der Betroffene es spürt», sagt Dr. Ljutow. Akuter Schmerz ist demnach wichtig und nützlich, weil er uns vor Unfällen, Verletzungen oder Krankheiten warnt. Wie schmerzhaft diese Wahrnehmung erlebt wird, ist jedoch subjektiv und von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Denn Schmerz ist eine komplexe Wechselwirkung zwischen biologischen, psychischen, sozialen und auch kulturellen Faktoren und nicht nur die Weiterleitung eines Signals unserer Nervenfasern. «Schmerz ist letztendlich das, was jeder Mensch als solchen empfindet», sagt André Ljutow. «Es stimmt beispielsweise auch nicht, dass Südländer schmerzempfindlicher sind, vielmehr müssen Menschen aus Kollektivgesellschaften, die in Gruppen leben, lauter klagen, damit sie überhaupt gehört werden.»

Akuter und chronischer Schmerz

Chronische Schmerzen können sich langsam oder auch sehr schnell aus einem akuten Schmerz entwickeln. Als chronisch wird ein Schmerzgeschehen oft bezeichnet, wenn der akute Schmerz länger als drei Monate andauert, obwohl die Verletzung oder Krankheit abgeschlossen ist. «Meist ist es ein ganzes Knäuel von Ursachen, die zum chronischen Schmerz führen und die Behandlung so schwierig machen», sagt André Ljutow. Bei Schmerzpatienten sind die Rezeptoren auf der Haut oder im Körper dann permanent dabei, Schmerzsignale auszusenden, obwohl es keine Ursache gibt. So wird chronischer Schmerz mit der Zeit ein eigenes Krankheitsbild. «Und chronischen Schmerz zu behandeln, ist dann überaus komplex, eine Tablette alleine hilft nicht», so Ljutow, «es braucht vielmehr verschiedene Methoden und Fachpersonen, die sich an der Behandlung beteiligen.»

«Top Fünf» der Schmerzen

Am häufigsten kommt es zu Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, neuropathischen Schmerzen (entstehen aufgrund von geschädigten Nerven, beispielsweise bei Menschen mit einem Diabetes mellitus), Schmerzen am Bewegungsapparat (muskuloskelettal) und zum rheumatischen Schmerz (durch Entzündungen bedingt).

Jede dieser Schmerzformen kann akut auftreten und dann chronifizieren. «Der Ablauf ist als Prozess zu verstehen», so Ljutow. Akute Rückenschmerzen bilden sich beispielswiese bei vier von fünf Menschen mit oder ohne ärztliche Behandlung nach rund sechs Wochen zurück. Aber bei einer der fünf Personen wird der Schmerz chronisch. «Dann ist es wichtig, genau hinzuschauen, weshalb der Schmerz noch vorhanden ist.» Das kann neben Veränderungen an der Wirbelsäule eine zusätzliche Belastung durch eine gestresste Lebenssituation sein, die den Körper stark belastet. «Psyche und Körper hängen eng zusammen», betont der Spezialist.

Chronifizierung vermeiden

Im Paraplegiker-Zentrum Nottwil behandelt Ljutow mit seinem Schmerzteam chronische Schmerzpatienten, die im Durchschnitt bereits seit acht Jahren an chronischen Schmerzen leiden und unterschiedlichste Therapien erfahren haben: «Die Behandlung dieser Schmerzpatienten ist dann überaus komplex.»
Daher wäre es laut dem Schmerzspezialisten besser, die Chronifizierung zu verhindern. Mit der Schweizerischen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes ist er mit andern Spezialisten dabei, einen einfachen und kurzen Fragebogen für Hausärzte zu erstellen, damit diese hellhörig werden und ein chronisches Schmerzgeschehen früher und schneller erkennen können. «Vor allem aber ist es auch wichtig, das Bewusstsein der Fachpersonen wie auch der Bevölkerung dahingehend zu sensibilisieren, dass der chronische Schmerz eine eigenständige Erkrankung ist», so André Ljutow.

Was kann der Einzelne machen?

Jeder Einzelne kann etwas unternehmen, damit Schmerzen weniger Chancen haben, chronisch zu werden. Dazu gehört es, Schmerzen immer ernst zu nehmen. Gehen sie nach sechs Monaten trotz Behandlung nicht zurück, ist an die Überweisung an eine spezialisierte Schmerzklinik zu denken. Menschen mit chronischen Schmerzen benötigen zudem die Unterstützung ihres sozialen Umfeldes, sollen aber nicht in Watte gepackt werden. «Ein supportives, also unterstützendes Verhalten ist hilfreich», erklärt André Ljutow. Das kann so aussehen, dass der Betroffene trotz Schmerzen an eine Feier geht, dort aber einen Raum oder eine Liege bekommt, damit er sich zwischendurch ausruhen kann. «Denn soziale Aktivitäten sind wichtig und sollten unbedingt beibehalten werden», hält Ljutow fest.

Empfinden Frauen häufiger Schmerzen als Männer und wie sieht das bei Kindern aus?

«Frauen leiden tatsächlich etwas häufiger unter chronischen Schmerzen als Männer. Bei ihnen sind es auch häufig Unterbauchbeschwerden, die chronifizieren, wie z. B. eine Erkrankung im gynäkologischen Bereich», weiss der Spezialist. Das Zentrum für Schmerzmedizin in Nottwil hat kürzlich eine neue Sprechstunde für Frauen mit chronischen Unterbauchbeschwerden eröffnet. Aber auch Kinder können in einem hohen Masse betroffen sein. Studien zeigen, dass Schmerzen am Bewegungsapparat bei Jugendlichen häufig sind und im Alter von 14 Jahren auf fast 24 Prozent ansteigen und in fünf bis sechs Prozent sogar chronifizieren können. Diese Entwicklung wird allerdings sowohl von Ärzten wie auch von den Betroffenen und Angehörigen noch immer zu wenig wahrgenommen. Das Universitätsspital Basel hat aber bereits darauf reagiert und neben einer Sprechstunde für chronische Schmerzen auch zwei stationäre Betten für Jugendliche mit chronischen Schmerzen eröffnet.

Aktiv gegen chronische Schmerzen

  1. Medikamente helfen gegen Schmerzen, aber nur in begrenztem Umfang.
  2. Eine Operation ist oft nicht DIE Lösung, vor allem wenn es um ein komplexes Problem wie chronische Schmerzen geht.
  3. Lernen Sie, Stress zu reduzieren und das Nervensystem zu entspannen. Dies fördert das emotionale Wohlbefinden und kann auch Schmerzen reduzieren.
  4. Rauchen Sie oder trinken Sie zu viel Alkohol? Essen Sie nur allzu oft ungesund oder bewegen Sie sich nicht regelmässig? Versuchen Sie, wenn nötig, Ihren Lebensstil ins Positive zu verändern.
  5. Beschäftigen Sie sich mit der tieferen Bedeutung von Schmerzen und Ihrer persönlichen Lebensgeschichte. Dabei kann ein Schritt zurück und ein Blick auf all die Ereignisse, die um die Zeit der Schmerzentstehung passierten, sinnvoll sein. Das Erkennen tiefer Gefühle kann Teil des Heilungsprozesses sein.

*Dr. med. André Ljutow, MSc, ist leitender Arzt des Zentrums für Schmerzmedizin in Nottwil (www.schmerz-nottwil.ch).