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Gesundheitswesen im Wandel der Zeit

Corona hat die Auswirkungen einer Epidemie und die Bedeutung von gesundheitspolitischen Massnahmen deutlich gemacht. Prof. Dr. Hubert Steinke beschäftigt sich als Medizinhistoriker unter anderem mit der Entwicklung unseres Gesundheitswesens.

Herr Professor Steinke, in einem Interview hat Altbundesrat Rudolf Merz erwähnt, Pest und Cholera hätten letztlich zu Fortschritten im städtischen Gesundheitswesen geführt. Stimmt das so?
Prof. Dr. Hubert Steinke*: Als die Pest wütete, gab es noch kein Gesundheitswesen. Die Seuche brachte tatsächlich insofern eine Entwicklung in Gang, als im 16. Jahrhundert in den Städten ständige Gesundheitsbehörden tätig wurden. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sorgte die Cholera für eine Neugestaltung des Abwassersystems in Schweizer Städten.

Leprakranke, also Aussätzige, wurden im Mittelalter in Siechenhäusern isoliert. Welche Instanz war zu dieser Massnahme befugt?
Zuständig war eine Kommission, bestehend aus Ratsherren, Apothekern und Ärzten. Sie entschied in der «Wundgschau», wer weggewiesen werden musste. 

Ob die COVID-19-Pandemie positive Entwicklungen für das Gesundheitswesen bringen wird, kann wohl erst nach Jahren beurteilt werden. Ist doch heute schon ein gewisser Erkenntnisgewinn sichtbar?
Die Krise hat uns allen zunächst vor Augen geführt, dass Epidemien und Infektionskrankheiten nicht einfach der Vergangenheit angehören, sondern uns weiterhin begleiten. Corona wird wie einst Pest und Cholera zu Veränderungen führen. Man muss beispielsweise einsehen, dass Notfallvorsorge ein Thema ist und dass bestimmte Bereiche im Gesundheitswesen nicht aus Spargründen vernachlässigt werden dürfen.

Theodor Kocher (1841–1917) gilt als Wegbereiter der modernen Chirurgie. Ist er, wie auch andere Schweizer Pioniere der Medizin, in Vergessenheit geraten?
Was Kocher zu seiner Zeit entdeckt hat, ist heute zu einem grossen Teil überholt. Sein Beispiel ist charakteristisch für jene klinischen Mediziner, die in ihrer Zeit die Medizin mit neuen Operationstechniken vorwärtsgebracht haben, deren Arbeit jedoch nach zwanzig, dreissig Jahren von der Aktualität verdrängt wurde. Abgesehen davon ist es schwierig, die Leistung eines medizinischen Pioniers so deutlich zu machen, dass sie genauso bekannt ist wie etwa die berühmte Formel von Albert Einstein. Gewiss sind die Namen einiger Schweizer Nobelpreisträger bekannt. Aber meist weiss man dann doch nicht genau, weswegen sie geehrt worden sind.

Die Namen welcher Medizin-Pioniere haben sich im allgemeinen Bewusstsein eingeprägt?
Würde bei einer Strassenumfrage nach dem Namen eines berühmten Schweizer Mediziners gefragt, würde vermutlich in den meisten Fällen mit Kopfschütteln reagiert. Allenfalls würde man sich an Dr. med. Beat Richner erinnern, der kein Forscher war, aber als «Beatocello» öffentlich aufgetreten ist und für seine Kinderspitäler in Kambodscha geworben hat. Auch der Name des Arztes Paracelsus, der 1493 in Einsiedeln geboren ist, hätte noch die Chance, genannt zu werden.

Würden sich vielleicht einige Leute eher an einen Pfarrer Künzle, an den Bündner Pater Thomas mit seiner Kohlwickel-Therapie oder andere «Volksmediziner» erinnern?
In meinen Seminaren für Medizinstudenten biete ich unter anderem einen Kursus an, in dem von Pfarrer Künzle und ebenso vom Heilpraktiker und Pharmaunternehmer Alfred Vogel gesprochen wird. Den heutigen Studenten ist Pfarrer Künzle praktisch unbekannt. Bei diesen beiden Persönlichkeiten handelt es sich nicht um Forscher im schulmedizinischen Sinn. Als Naturheilpraktiker haben sie aber in der Schweiz doch einiges bewegt. Schulmediziner werden nun einwenden, der Kräuterpfarrer habe ganz intensiv gegen die Schulmedizin gewettert. Künzle stand der Schulmedizin tatsächlich sehr kritisch gegenüber, während Alfred Vogel sich um einen gewissen Konsens bemühte.

Angenommen, Sie selbst müssten bei einer Umfrage den Namen eines Pioniers nennen?
Auf das 20. Jahrhundert bezogen, würde ich Maurice Müller nennen. Er gilt weltweit als der bedeutendste Orthopäde. Müller hat eine neue Heilungsform von Knochenbrüchen etabliert, die heute in aller Welt zur Anwendung kommt. Überdies ist er ein Pionier auf dem Gebiet der Medizintechnik: Dennoch ist der Name Maurice Müller nur wenigen Medizinstudenten bekannt. Wer sich für Kunst interessiert, weiss vielleicht, dass Müller als Stifter das Zentrum Paul Klee in Bern ermöglicht hat. Ein weiterer Pioniername wäre der Nobelpreisträger Tadeus Reichstein, der für die Schweizer Pharmaforschung eine bedeutende Rolle gespielt hat.

Weshalb ist vergleichsweise selten von Medizinethikern oder von Fachpersonen die Rede, die sich etwa auf dem Gebiet der Krankenpflege oder der Arzt-Patienten-Kontakte verdient gemacht haben?
Meist konzentriert man sich eben auf Entdeckungen, deren Ergebnis sich in einer einfachen Formel festhalten lassen. Aber selbstverständlich wären viele Namen von Menschen zu nennen, die keine Entdeckung gemacht haben, aber dennoch als Pioniere gelten können. Denken wir an Henri Dunant, der zwar kein Mediziner, aber für die Schweiz extrem wichtig war. Bedeutungsvoll ist etwa auch Marie Heim-Vögtlin, die erste Schweizer Ärztin.

Ist heute in der Medizin Pionierleistung überhaupt noch möglich oder verlangt die Komplexität der Forschung nach Teamleistung?
Der Begriff «Pionier» war früher schon insofern eine Vereinfachung, als meist mehrere Menschen suchend und forschend zu einem Ergebnis beigetragen haben. Selbstverständlich stehen aber oft auch Einzelpersönlichkeiten im Vordergrund, die besonders innovativ sind, die zentralen Fragen stellen oder ein Projekt kreativ anstossen.
Teamarbeit ist heute sehr wichtig, ersetzt aber nicht eine Figur, die unter anderem auch die Gabe hat, Forschungsgelder zu beschaffen und Arbeitsabläufe zu organisieren. Die grossen Pioniere der Medizingeschichte verfügten übrigens fast alle über ein bemerkenswertes Durchsetzungsvermögen.

In einem Aufsatz in «Horizonte» haben Sie geschrieben: «In hundert Jahren wird man wohl über einiges lachen, was wir heute machen.» Können Sie dazu Beispiele geben?
Nun ja, die Zukunft hat es so an sich, dass sie in der Zukunft liegt und unvorhersehbar ist. Kommt dazu, dass die Entwicklung derart rasant voranschreitet, dass es schwierig ist, Prognosen zu stellen. Als Beispiel mag aber die Neuroforschung gelten. Es wurden Milliarden und Milliarden investiert und man hatte den Eindruck, riesige Fortschritte gemacht zu haben. Dennoch wage ich zu sagen, dass wir noch wenig Ahnung haben. In den Neunzigerjahren war man sicher, dass man in zwanzig Jahren die Entstehungsprozesse der Alzheimerkrankheit kennen werde und die Krankheit behandelbar sein würde. Über jene Siegesgewissheit kann man heute nur nachsichtig lächeln.
In den Dreissigerjahren empfahl sich bei Tuberkulose ein Kuraufenthalt in der Bergsonne. Einige Jahre später galt diese Therapie als veraltet, weil nun Antibiotika zur Verfügung standen. Wer weiss denn, ob nicht in den nächsten paar Jahrzehnten in der Krebsforschung eine ähnliche Entwicklung möglich ist?

* Hubert Steinke promivierte 1995 zum Dr. med., etwas später schloss er ein Studium der Kunstgeschichte mit dem Lizenziat und das Geschichtsstudium mit einem Doktorat ab. Seit 2011 ist er an der Universität Bern ordentlicher Professor für Medizingeschichte und Direktor des Medizinhistorischen Instituts.