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Am Limit: Wenn alles zu viel wird

In manchen Lebensphasen scheint es kein Licht am Ende des Tunnels zu geben. Dr. med. Thomas Ihde-Scholl, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, berät und begleitet Menschen in Krisensituationen.

Herr Dr. Ihde, suchen seit Beginn der Pandemie deutlich mehr Menschen mit Belastungsstörungen bei Ihnen Hilfe?
Dr. med. Thomas Ihde-Scholl*: Im vergangenen Sommer stieg deren Zahl an, nicht zuletzt unter dem Druck der wirtschaftlichen Unsicherheit. Seit Ausbruch der zweiten Welle war in der ganzen Schweiz eine markante Zunahme feststellbar, und zwar in allen Altersgruppen, insbesondere jedoch bei den jungen Erwachsenen.

Mangelt es vielen jungen Leuten an Lebensperspektiven?
Junge Menschen müssen ihre eigene Identität entwickeln. Dies geschieht über Beziehungen, über Freundschaften, erste Partnerschaften, aber auch über das berufliche Leben. Die Beziehungsmöglichkeiten sind eingeschränkt worden. Jungen Lernenden, die ihren Lehrbetrieb noch kaum kennenlernen konnten oder vor Kurzem die Stelle gewechselt hatten, fiel die Arbeit im Homeoffice nicht leicht – und besonders belastet waren jene, die keine Stelle finden konnten.

Welchen Aus- oder Umweg schlagen Sie vor?
In einer Krisensituation besteht beim jungen Menschen die Tendenz, sich immer mehr aus dem sozialen Umfeld zurückzuziehen. Er hat den Eindruck, er werde von der Clique abgelehnt. In der Behandlung geht es deshalb sehr um eine Aktivierung der Ressourcen, die verhindern helfen, dass aus Erschöpfung, Ängsten und Depressivität eine Dynamik entsteht, die in die falsche Richtung zieht. Es stellen sich Fragen wie «Was ist unter den gegebenen Umständen immer noch möglich und was tut mir gut?»

Auch älteren und alten Menschen macht die Pandemiesituation zu schaffen. Im Allgemeinen scheinen sie aber verhältnismässig gut klarzukommen.
Das ist so, weil ältere Menschen in ihrem Leben schon mehrfach schwierige Phasen überstehen mussten – etwa schwere Erkrankungen oder auch den Verlust des Partners. Die Erfahrung, dass Krisen zwar unvermeidbar sind, aber überwunden werden können, fehlt den jungen Leuten.

Welche körperlichen Signale machen auf eine ernsthafte psychische Überlastungssituation aufmerksam?
Körper und Psyche sind eine Einheit. Das am leichtesten feststellbare Überlastungssignal ist das morgendliche Früherwachen: Man erwacht um drei Uhr, sieht sich sofort mit den anstehenden Problemen konfrontiert, ist im Stress und kann nicht mehr einschlafen.
Manche Leute stellen einen unerklärbaren körperlichen Leistungsabfall fest, etwa beim Wandern. Der dritte Punkt betrifft die Erholungsfähigkeit des Körpers: Nach einer Anstrengung benötigt er viel mehr Zeit, bis er sich wieder regeneriert hat. Treten unvermittelt Magen-Darm-Beschwerden, Durchfall oder Blähungen auf, kann auch dies ein Hinweis sein. Bei Kreislaufproblemen und Schwindelgefühlen ist ebenfalls eine nervliche Belastung in Betracht zu ziehen.

Was halten Sie von Leitsprüchen wie «Was mich nicht umbringt, macht mich stark»?
Dieser Spruch hat insofern etwas für sich, als er den Hinweis gibt: «Das Leben kann nicht immer perfekt sein.» Wir, die wir in der Schweiz leben, gehen davon aus, dass fast alles planbar und kontrollierbar sei. Tritt auf dem Weg ein Schlagloch auf, sind wir entgeistert und haben das Gefühl, uns in einem abnormalen Bereich zu befinden. Schlaglöcher gehören aber zum Leben und die Bemeisterung von Schlaglöchern fördert die Gesundheit.

Und wenn das Schlagloch zu tief ist?
Ich kann unzählige Male vergeblich versuchen, allein aus dem Schlagloch herauszukommen – oder ich kann jemanden fragen, ob man mir helfen würde, eine Leiter zu bauen. Sich Hilfe zu holen ist eine Fertigkeit, die im zitierten Sprichwort nicht zur Geltung kommt. Dieses «Entweder ich schaffe es allein und werde so gestärkt oder ich überlebe nicht, dann ist das eben die natürliche Selektion» ist keine zeitgemässe Alternative.

Auch Sie geben den Rat, im seelischen Tief die persönlichen Ressourcen zu aktivieren. Aber was, wenn es an Kraft und Energie fehlt?
Einer meiner Freunde pflegt zu sagen: «Geht es mir gut, gehe ich zweimal die Woche auf dem Thunersee rudern. Habe ich Stress, gehe ich viermal zum Rudern.» Er denkt voraus und weiss, dass er bei höherem Energieverbrauch sorgfältiger auf sich achten muss. Diese Taktik wird viel zu selten wahrgenommen – obwohl man im Vergleich sehr wohl weiss, dass man vor einer langen Autofahrt eine ausreichende Menge tanken muss. Ist man bereits im Stadium der Erschöpfung, braucht man jemanden, der einen begleitet. Zum Beispiel jemanden, der mitkommt, wenn man sich vorgenommen hat, vor Arbeitsbeginn jeweils anderthalb Stunden im Wald zu laufen. Auf sich allein gestellt, kommt man meist sehr rasch vom guten Vorsatz ab und ist dann von sich selbst enttäuscht.

Den Begriff Burn-out bringt man vorrangig mit Managern in Verbindung. Sind nun auch Frauen Burn-out-Kandidatinnen, wenn sie im Homeoffice auch noch das Schulprogramm ihrer Kinder begleiten und die Hausarbeit bewältigen müssen?
Seit zwanzig Jahren weiss man, dass zur Burn-out-Hochrisikogruppe jene Leute gehören, die in Scharnierfunktionen tätig sind: Sie müssen von oben Anweisungen entgegennehmen und diese nach unten weitergeben. Im Spital sind nicht etwa die Chefärzte gefährdet, sondern eher Leute vom Reinigungsteam, deren Handlungsspielraum sehr klein ist und die nicht entscheiden können, wie viel Arbeit sie sich zumuten wollen. Sie haben die Mehrfachbelastung angesprochen: Tatsächlich kann eine Häufung von Familienarbeit, finanziellen oder auch gesundheitlichen Problemen in ein Burn-out führen. Besonders gefährdet sind alleinerziehende Eltern. Die Wahrnehmung, dass man immer nur gerade knapp über die Runden kommt und einfach nichts passieren darf, ist eine schwere Belastung. In unserem Land ist die generelle Gesundheit vom Einkommen abhängig.

Wie reagieren Sie ganz unmittelbar auf den Klageruf «Mir wird alles zu viel, ich kann einfach nicht mehr»?
Meine unmittelbare Reaktion ist Mitgefühl. Anschliessend versuche ich, Informationen zu bekommen und zu verstehen, ob es um ein momentanes Gefühl geht oder ob sich die Situation über Monate aufgestaut hat und nun auch der letzte Strohhalm entzweigebrochen ist. Entsprechend unterschiedlich gestalten sich die Interventionen. Sehr oft wäre es ratsam, ein Patient/eine Patientin käme frühzeitig zur Beratung, statt sich zwei Monate lang mit schlaflosen Nächten zu quälen.

Trägt die aktuelle Planungsunsicherheit zu depressiven Verstimmungen bei?
Ja, und es geht um zwei Phänomene. Wir stellen uns Fragen, auf die es keine oder noch keine Antwort gibt, mit denen sich unsere Psyche aber dennoch immer wieder beschäftigt. Diese Unbeantwortbarkeit treibt viele Menschen um: Sie müssen lernen, zu akzeptieren, dass die Fragen wohl erst nach längerer Zeit beantwortet werden können. Man kann sich auch vornehmen: «Ich befasse mich pro Tag während dreissig Minuten mit dem Thema Corona und wende mich dann den Problemen zu, die ich beeinflussen kann. Ich weiss nicht, was im nächsten Jahr möglich sein wird und bemühe mich nun um eine möglichst gute Gestaltung der nächsten paar Tage.»

Krise als Chance: Ist das nicht bloss eine billige Floskel?
Hat ein Freund gerade seine Stelle verloren, sollte man ihn nicht mit diesem Spruch trösten wollen. Er braucht Zeit und findet vielleicht erst nach Monaten eine Tätigkeit, bei der er sich möglicherweise wohler fühlt als im einstigen beruflichen Umfeld. In der Rückschau stellt man nicht selten fest, dass einem die Krise viel abverlangt, aber auch zu positiven Veränderungen verholfen hat.

* Dr. med. Thomas Ihde-Scholl leitet als Chefarzt die psychiatrischen Dienste der Spitäler Frutigen-Meiringen-Interlaken fmi ag. Als Präsident der Schweizerischen Stiftung Pro Mente Sana setzt er sich für die Interessen von psychisch Erkrankten und deren Angehörigen ein.