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Positive Sicht aufs Leben: Wie geht das?

Insbesondere beim Jahreswechsel wird man aufgefordert, positiv zu denken und das Leben bejahend anzugehen. Leicht gesagt, schwer getan? Prof. Dr. Christoph Flückiger verrät, ob sich eine positive Lebenseinstellung trainieren lässt.

Herr Professor Flückiger, schon in der Antike empfahlen Philosophen eine positive Einstimmung aufs Leben. Vermittelt der Fachbereich der Positiven Psychologie heute neue Leitlinien?
Prof. Dr. Christoph Flückiger*: Die Positive Psychologie versucht, mit wissenschaftlichen Methoden – so etwa auch mit Fragebogen – Zustände des Menschen zu erforschen, die mit Wohlbefinden, Lebenszufriedenheit und Lebenssinn im Verlaufe der verschiedenen Lebensphasen zu tun haben. Sie ist im Grunde eine Reaktion auf die in der Psychologie und der Psychotherapie breit vertretene Tendenz, vor allem Krankheitsbilder wie Ängste oder Depressionen in den Vordergrund zu stellen. Die Positive Psychologie möchte jedoch in erster Linie nicht defizitorientiert arbeiten, sondern sich mit Aspekten wie etwa der Spontaneität oder der Neugier des Menschen beschäftigen.

Was will Positive Psychologie vermitteln?
Nun ja, häufig befassen wir Menschen uns mit Vermeidungszielen. Wir überlegen uns, was wir nicht wollen oder verhindern möchten oder was wir vermutlich nicht schaffen werden. Die Positive Psychologie fragt: Wo willst du hin und was möchtest du erreichen? Stell fest, was deine Möglichkeiten sind – und dann fang an.

Eine Volksweisheit sagt, es sei keine Schande hinzufallen, aber eine Schande, liegen zu bleiben und nicht wieder aufzustehen. Wie kommt man nach einem harten Schicksalsschlag wieder auf die Beine?
Hilfreich kann die Akzeptanz sein: Es ist, wie es ist. In manchen Situationen bringt die Einsicht, dass wir Menschen in unseren Möglichkeiten oft eingeschränkt sind und Grenzen anerkennen müssen, eine gewisse Entlastung. Auf der anderen Seite ist eine Trotzdem- und Dennoch-Haltung wichtig: Obwohl ich zu Boden gedrückt worden bin, bleiben bestimmte, mir wichtige Werte weiterhin bestehen. Nur aus dieser Haltung heraus war und ist es Menschen möglich, sich selbst unter schwierigsten und bedrohlichsten Situationen nicht aufzugeben und zu überleben.

Sind wahrhaft positiv gestimmte Menschen lediglich Personen, die das Leben einfach realitätsfern durch die vielzitierte rosarote Brille anschauen?
Eine positive Lebenshaltung hat nichts mit Scheuklappen und einer saloppen «Es-kommt-schon-alles-gut»-Einstellung zu tun. Positives Denken heisst nicht, die Augen vor den Realitäten unserer Welt zu verschliessen. Vor allem geht es darum, dass ich mich selbst aus einer distanzierten Sicht betrachte und feststelle, welche Punkte für mich und mein Leben wichtig sind und was für mich persönlich Lebenssinn ausmacht. Ich soll gewahr werden, welche Bedürfnisse, welche Stärken und Schwächen ich habe, was mich also überhaupt ausmacht. Es gibt verschiedene Charakterstärken, seien dies nun Wissen, Weisheit oder Lebensweisheit, Kreativität, Lernbegier, Mut und Ausdauer, Durchhaltewillen, Begeisterungsfähigkeit oder auch Mitmenschlichkeit.

Manch einem mag solch eine Bestandsaufnahme gut gelingen, ein anderer wiederum dürfte Schwierigkeiten haben. Nehmen wir als Beispiel eine betagte Frau im Altersheim, die sagt, sie lebe nicht mehr, sondern existiere nur noch – während ihre Zimmernachbarin sich freut, im Heim gut aufgehoben zu sein. Weshalb nimmt der eine Mensch das Glas als halb leer und ein anderer als halb voll wahr?
Gewiss hat diese unterschiedliche Sicht auch mit der charakterlichen Veranlagung zu tun. Um auf Ihr Beispiel zurückzukommen: Die Betrachtungsweise der alten Dame ist vielleicht nicht einfach nur negativ, sondern positiv in dem Sinne, als sie ihre Situation sehr ehrlich und radikal in den Blick nimmt. Sie spricht offen aus, was sie fühlt und empfindet. Die Bedeutung und die Wirkungsmechanismen von Gesundheit und Wohlbefinden sind eben weit vielschichtiger als eine oberflächliche «Ich-bin-total-aufgestellt»-Mentalität. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit sich selbst kann in jedem Fall zu einer gewissen Ruhe und schliesslich zur Akzeptanz der aktuellen Lebenssituation führen. Dies wiederum verschafft möglicherweise sogar den Zugang zu neuem Lebenssinn.

Ist seelische Widerstandskraft als Grundmaterial für eine positive Lebenseinstellung auch ein Stück weit Veranlagung?
Ich denke schon, dass es Menschen gibt, die in schwierigen Situationen von einer besonders starken seelischen Immunabwehr geschützt werden. Die Wahrnehmung ist von Person zu Person unterschiedlich: Der eine klagt rasch und bemitleidet sich, ein anderer baut Widerstandskraft auf und versucht, sich zurechtzufinden. Ideal wäre eine Kombination zwischen Akzeptanz des jeweiligen Problems und dem Innewerden all dessen, was mir erhalten bleibt und mir wichtig ist, mich aufbaut.

Kann es sein, dass eine negative und pessimistische Lebenseinstellung zuweilen mit einem medizinischen Problem zu tun hat?
Selbstverständlich können unterschiedliche gesundheitliche Beeinträchtigungen oder Defizite auf unser seelisches Wohlbefinden und unsere Lebenshaltung wesentlich Einfluss nehmen. Diese Tatsache mindert jedoch nicht die Bedeutung der Psychotherapie, die behilflich sein kann, wenn es darum geht, einen neuen Lebensentwurf oder den Zugang zu einer neuen Lebensphase zu finden oder auch mit körperlichen Einschränkungen zurechtzukommen.

Der positive und mutige Blick aufs Leben ist somit abhängig vom psychischen wie auch gesundheitlichen Zustand des Menschen?
Leib und Seele lassen sich nun einmal nicht trennen. Deshalb möchte ich grundsätzlich auf die starke Bedeutung der interdisziplinären Zusammenarbeit hinweisen. Eine gesundheitliche Störung kann Grund sein für Lebensunlust oder eine depressive Verstimmung – und andererseits ist zuweilen eine psychische Störung die Ursache eines vermeintlich körperlichen Problems, das womöglich gar mit einer Operation behoben werden soll. Immer neu bin ich überwältigt von der Faszination, die der menschlichen Natur innewohnt – vom permanenten Zusammenspiel der verschiedenen Funktionen.

Lässt sich positives Denken, Fühlen und Handeln trainieren?
Ja, für mich geht es in diesem Bereich in erster Linie um die Wahrnehmungsfähigkeit. Um die feine und sorgfältige Wertschätzung der vermeintlich kleinen und erfreulichen Dinge und Erlebnisse. Wichtig ist ebenso, dass wir das Staunen nicht verlernen, uns Humor erlauben und auch einmal über uns selbst lachen und uns nicht immer so ernst nehmen. Dankbarkeit ist ebenfalls ein wichtiges Feld, auf dem eine positive Lebenseinstellung wachsen kann. Meine Grossmutter ist 102 Jahre alt. Als sie 90 war, musste ihr ein Bein amputiert werden, sie ist in ihrer Bewegungsfähigkeit stark eingeschränkt. Aber sie hortet in sich eine wunderbare Lebensreichhaltigkeit und ist dankbar, den Beginn des 21. Jahrhunderts mit all seinen Entwicklungen und Phänomenen noch miterleben zu dürfen. Schaut sie aus dem Fenster, meint sie manchmal mit Staunen: «Das ist doch wahnsinnig, wie die Autos heutzutage aussehen, nur schon die Vielfalt der Farben ist grossartig.» Diese staunende Wahrnehmungsbereitschaft meiner Grossmutter kann als Bild dienen für das, was mit einem Training der positiven Lebenshaltung und der Lebenszufriedenheit angestrebt wird.

*Dr. Christoph Flückiger, Fachpsychologe für Psychotherapie FSP, leitet als Professor die Fachstelle für Allgemeine Interventionspsychologie und Psychotherapie an der Universität Zürich.