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Gendermedizin: Geschlechtsspezifische Therapie

Frauen können nur miserabel einparken und Männer hören nicht richtig zu. Ob diese Klischees wirklich stimmen, sei infrage gestellt. Was allerdings immer mehr Fachleute bestätigen: Beide Geschlechter brauchen teils unterschiedliche medizinische Versorgung.

Vom Aussehen her sind Mann und Frau leicht auseinanderzuhalten. Auch wenn viele von uns nicht den Idealen eines vollbusigen Superweibes oder eines durchtrainierten Adonis entsprechen, sind doch deutliche optische Unterschiede zwischen beiden zu erkennen. Auch hinsichtlich psychosozialer Effekte gibt es seit Langem anerkannte geschlechtsspezifische Differenzen: Denkweise und Verhalten sind häufig nicht identisch. Um harmonisch miteinander leben zu können, müssen deshalb bekannterweise beide Geschlechter viel gegenseitiges Einfühlungsvermögen zeigen.

Verhaltenstypische Unterschiede in der Medizin

Auch wenn es um die Gesundheit geht, wird verschieden gehandelt. Frauen halten sich beispielsweise eher an empfohlene Therapien, weisen ein stärkeres Gesundheitsbewusstsein als Männer auf und setzen somit auch intensiver auf Prävention. Zudem haben sie meist ein höheres Verantwortungsgefühl für andere, insbesondere für Familienmitglieder. So bekommen Ärzte wohl öfter den Spruch «Meine Frau hat mich geschickt» zu hören als «Mein Mann findet, ich sollte mich untersuchen lassen». Männer leben durchschnittlich riskanter als Frauen und gehen vielfach rücksichtsloser mit ihrem Körper und ihrer Gesundheit um. Sie sind aber durchschnittlich auch bewegungsfreudiger und treiben mehr Sport, was ihrem Wohlergehen wiederum zugutekommt.

Geschlechtsspezifische Medizin

Eine relativ junge Erkenntnis ist nun, dass sowohl diese verhaltenstypischen Abweichungen zwischen Mann und Frau wie auch die körperlichen Unterschiede (und Gemeinsamkeiten) bei medizinischen Behandlungen beachtet werden müssen. Den Wissenschaftszweig, der sich damit beschäftigt, nennt man Gendermedizin. Der Begriff «Gender» kommt aus dem Englischen. Er beschreibt eigentlich nur das unterschiedliche soziale und psychologische Verhalten von Mann und Frau, das von Erwartungen, Kultur, Religion, Familie und Gesellschaft geprägt wird. Die Gendermedizin kümmert sich aber nicht nur um diese psychosozialen Unterschiede, sie vergleicht vor allem auch biologische Differenzen des männlichen und weiblichen Körpers (siehe «Einige wichtige biologische Unterschiede») und leitet daraus geschlechtsspezifische Diagnosen, Präventionsmassnahmen und Therapien ab.

Frauen und Männer werden teilweise anders krank

Frauen leiden zum Beispiel häufiger unter Osteoporose, Depression oder Schilddrüsenerkrankungen. Gicht, Leistenbruch und Parkinson sind hingegen eher «typisch Mann». Mit vielen dieser Erkrankungen beschäftigt sich auch die Gendermedizin ausgiebig. Sie warnt aber gleichsam davor, sich als weniger gefährdetes Geschlecht in falscher Sicherheit zu wiegen. Es können beispielsweise nämlich auch Männer an Brustkrebs erkranken, obwohl dieser vorwiegend «weiblich» ist. Die Gefahr besteht dann darin, dass man Symptome unzureichend ernst nimmt und die Erkrankung erst spät, womöglich sogar zu spät, erkannt und behandelt wird.

Symptome variieren

Männer und Frauen entwickeln bei einigen Erkrankungen sogar unterschiedliche Symptome. Ein Beispiel dafür ist der Herzinfarkt. Meist zeigen sich Warnsignale wie brennende, beklemmende Brustschmerzen, die oft auch in die linke Schulter oder den Arm ausstrahlen. Bei Frauen (nach der Menopause) können die Symptome wie Luftnot, unerklärliche Übelkeit, Erbrechen sowie ein diffuses Druckgefühl in Brust, Rücken oder Bauch aber auch deutlich untypischer verlaufen. Diese Anzeichen werden dann – weil weniger bekannt – von den betroffenen Frauen oft nicht ausreichend ernst genommen. Studien zufolge reagiert aber auch das medizinische Personal weniger rasch darauf. In Spitälern, die auf diese Thematik wenig sensibilisiert sind, werden demnach Männer mit den «typischen» Symptomen deutlich schneller am Herzen untersucht als Frauen mit «untypischen» Anzeichen. Die sogenannte «door to needle time», also die Zeit vom Eintreffen im Krankenhaus bis zur Behandlung, ist somit bei herzinfarktgefährdeten Frauen oft länger als beim Mann.

Medikamente wirken unterschiedlich

Auch der Einsatz von Arzneimitteln muss teilweise geschlechtsspezifisch betrachtet werden. Lange Zeit wurden für die Überprüfung von Wirkstoffen nur junge, gesunde Männer herangezogen. Frauen wurden von Versuchsreihen ausgeschlossen. Das hat zwei Gründe:

  • Der weibliche Körper unterliegt monatlichen hormonellen Schwankungen, die Studienergebnisse verfälschen können.
  • Wird die Frau schwanger, muss das Testverfahren sofort eingestellt werden.
    Die Wirkung zahlreicher Medikamente ist somit nur für den männlichen Organismus bestätigt. Heute verlangen viele Zulassungsbehörden allerdings Tests an beiden Geschlechtern, da gewisse Arzneimittel an Mann und Frau einfach unterschiedliche Effekte zeigen. Aspirin beispielsweise senkt bei Männern das Herzinfarktrisiko; bei Frauen hingegen verringert es das Risiko eines Schlaganfalls. Schlafmittel wiederum wirken bei Frauen oft bis zum Mittag, während sich Männer schon am Morgen wieder fit fühlen. Wie aber sind diese unterschiedlichen Resultate zu erklären?

Arzneistoffe werden ungleich verwertet

Der Verdauungstrakt von Männern nimmt eingenommene Wirkstoffe meist schneller auf als jener von Frauen. Auch die Stoffwechselleistung der männlichen und weiblichen Leber ist unterschiedlich, was dazu führt, dass Medikamente verschieden abgebaut werden. Arzneistoffe sind ausserdem entweder fett- oder wasserlöslich. Da Frauen bezogen auf ihre Körpermasse meist einen höheren Fettanteil als Männer aufweisen, reichern sich Medikamente je nach ihrer chemischen Eigenschaft auch unterschiedlich im Gewebe an. Letztendlich arbeiten weibliche Nieren etwas schwächer. Bestimmte Medikamente werden deshalb bei Frauen nicht so schnell ausgeschieden und verbleiben länger im Körper, was dann wiederum eine geringere Dosis notwendig macht.

Was heisst das für die Zukunft?

Viele medizinische Fachkräfte schenken dank Gendermedizin all diesen wichtigen geschlechtsspezifischen Unterschieden bereits jetzt die notwendige Beachtung. Immer mehr Experten erkennen, dass Männer, Frauen und intersexuelle Menschen vor allem auch hinsichtlich Gesundheit ihre eigenen Bedürfnisse haben. Die Gendermedizin hat aber als relativ junge Wissenschaft noch einiges zu leisten. So müssen geschlechtsspezifische Gemeinsamkeiten, aber vor allem auch Differenzen zukünftig weiter erforscht und ernst genommen werden. Dann aber rücken wir jener personalisierten Gesundheitsversorgung ein Stückchen näher, die jedes Individuum gesondert beachtet und allen Geschlechtern von optimalem Nutzen ist.

XX oder XY?

Wissen Sie es noch? Nur zwei Chromosomen bestimmen das Geschlecht:
Mädchen: X-Chromosom der weiblichen Eizelle verschmilzt mit X-Chromosom der männlichen Samenzelle (XX).
Junge: X-Chromosom der weiblichen Eizelle verschmilzt mit einem Y-Chromosom der männlichen Samenzelle (XY).
Intersexuelle Menschen (weder Frau noch Mann im klassischen Sinne): Hier paart sich beispielsweise im Zuge der Befruchtung das X-Chromosom mit keinem weiteren X- oder Y-Chromosom.
Geschlechtshormone nehmen einen zusätzlichen Einfluss darauf, wie «männlich» oder «weiblich» das heranwachsende Individuum wird.

Einige wichtige biologische Unterschiede

Männer …

  • sind schwerer und grösser als Frauen.
  • haben weniger Körperfett.
  • zeigen einen verbesserten Stoffwechsel.
  • weisen eine höhere Schmerzschwelle auf.
  • unterliegen geringeren Hormonschwankungen.

Frauen …

  • haben ein kleineres Herz mit feineren Gefässen bei höherer Herzfrequenz.
  • verfügen über eine geringere Filterleistung der Nieren.
  • werden durch Östrogene bis zur Menopause weitgehend von bestimmten Erkrankungen wie Herzinfarkt geschützt.
  • haben ein stärkeres Immunsystem.